Narben erzählen Geschichten

Foto: H.S.

Es mag komisch klingen, aber: Ich finde Narben interessant. Denn sowohl fachlich als auch emotional sind Narben eine neue Struktur im Körper, in der sich Geschichten verbergen. Ich mag Geschichten und es ist mir noch nie eine Story zu einer Narbe begegnet, die mich nicht berührt hätte.

Strukturell ist eine Narbe insofern spannend, als dass sie offensichtliche Fragen aufwirft. Was ist passiert? Wie ist die Verletzung versorgt worden? Wie lang liegt das Ereignis zurück — ist es eher frisch oder schon viele Jahre her? Hat der Operateur sich Mühe gegeben? Hatte er Zeit und Bezahlung für eine intracutane Naht? Wie war die Wundheilung? http://blog.tina-knape.de/2020/08/26/wundheilungsphasen-leicht-erklaert/ Wie geht der (ehemalige) Patient mit der Narbe um? Versucht er, sie zu verdecken, ist sie integriert und fällt somit kaum auf oder zieht die Narbe unsere volle Aufmerksamkeit auf sich und ist damit ein echter “Hingucker”?

In den letzten 20 Jahren habe ich beruflich wie privat viele Narben gesehen und Geschichten dazu gehört. Ich erinnere einige Highlights. Eine junge Frau, die sich ein Tattoo um die Narbe herum stechen ließ, um es zu verdecken, doch der gewünschte Effekt, nicht darauf angesprochen zu werden, blieb aus. Ich sehe vor meinem inneren Auge einen jungen Backpacker in kurzen Hosen mit komplett aufgeschürftem Bein am Flughafen Bangkok nach seinem Mopedsturz recht unbeweglich auf seinen Rückflug warten (das war erkenntlich, ohne dafür mit ihm plaudern zu müssen). Ich erinnere eine große Buddhi-Party in Prag, auf der ich einen neuen Kontakt knüpfte, indem ich den vor mir Stehenden auf seine interessante Wadennarbe ansprach (alte Geschichte aus seiner Kindheit).

Auch und vor allem im Job lasse ich mir gern noch einmal die Gründe, wie die Patienten zu dieser Narbe gekommen sind, erzählen. http://blog.tina-knape.de/2021/06/24/erzaehl-deine-geschichte-ganz-genau/ Dabei ist es interessant, zu hören, wie nüchtern oder aufwühlend das Ereignis geschildert wird. Gibt es schon die Möglichkeit zur De-Identifikation http://blog.tina-knape.de/2021/10/14/humor-gibt-raum/? Was hängt für den Betroffenen alles an dieser Narbe, was Schmerz, Krankenhauserfahrung, Beteiligte, Grund für die OP und ähnliches betrifft? So entsteht viel mehr Verständnis dafür, dass so eine Narbe eine stetige Erinnerung an etwas Vergangenes ist. http://blog.tina-knape.de/2020/07/16/nie-wieder-wie-frueher/ Manchmal wohnen in Narben sehr traurige Geschichten — und tragische Ereignisse. Gelegentlich sind es unglückliche Verkettungen oder schräge Unachtsamkeiten. Es gibt wohl keine Narbe, die nicht Schmerz in ihrer Geschichte trägt, egal, ob dabei ein Wunschbaby durch Kaiserschnitt geboren wurde oder einem Achillessehnenverletzten vier Mal die gleiche Narbe aufgeplatzt ist.

Narben sind behandlungstechnisch zu recht in unserem therapeutischen Fokus. Die Durchblutung und ein guter Stoffwechsel sind stets sinnvoll und erstrebenswert, damit alles gut fließt. Auch und gerade im Narbengewebe. Es gibt spezielle manuelle Verschiebetechniken, unterschiedliche Intensitäten und Hilfsgeräte, spezielle Salben. Auch zur eigenen Kontaktaufnahme zum Narbengebiet, ist es für Patienten empfehlenswert, ihre Narbe selbst anfassen und mobilisieren zu können. Die Narbengewebsstruktur neigt zu mehr Starre und Unflexibilität, braucht deswegen die richtige Unterstützung zur rechten Zeit.

Womit ich jeden Patienten aus dem “Narbentalk” entlasse, ist die Aufforderung zu einer “guten Story” zu der eigenen Narbe. Stellen Sie sich vor, Sie stehen in einer Bar und werden zu Ihrer Narbe befragt. Dann braucht es eine coole Antwort. Da gehört “Ich bin zuhause über die Teppichkante gestolpert” nicht dazu. Meine Empfehlung ist augenzwinkernd eher eine Heldengeschichte. Knapp einer Haiattacke entkommen zu sein oder ein Kind vor dem Bus gerettet zu haben, bietet die Basis zum Fortführen des Gesprächs. Die wahre Geschichte (mit all ihrer persönlichen Emotionalität) kann man immer noch nachreichen. Die süßeste Aussage einer 5-jährigen war zu ihrem großen Kratzer auf der Nase “Ich habe mit einem Einhorn gekämpft”. Wow. Ungestützt eine geniale Antwort. Wie öde wäre ein “ich war müde und bin auf dem Schotterweg hingefallen”. Ich war begeistert von ihrem Einfallsreichtum und nehme das hiermit in meine Empfehlungsliste auf!

Narben sind interessant. Narben tragen Geschichten und Sie können sie mitgestalten. http://blog.tina-knape.de/2021/09/02/sein-regisseur-der-eigenen-geschichte-sein/ Manchmal braucht es einfach eine gute Story. Seien Sie kreativ!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert