“Nie wieder wie früher”

Das mit dem “Hier und Jetzt” ist ja so eine Sache. Dass das Leben immer wieder nur in diesem Moment stattfindet, wissen die meisten. Dieses Wissen hingegen in Anwendung zu bringen, ist die viel größere Herausforderung. Dazu hat die Corona-Situation flächendeckend für erstaunliche Wachsamkeit gesorgt, weil ziemlich überraschend jegliche Planung von Arbeitsalltag, Freizeitgestaltung, Kinderbetreuung, Urlaub und Toilettenpapiereinkauf hinfällig war. Noch immer herrscht in bestimmten Bereichen Unklarheit. Stetig ist die Herausforderung groß: Was war noch gestern? Wie wird es morgen sein? Und: vermutlich wird es nie wieder wie früher.

Das ist ein gesellschaftliches Erleben des Moments.

Und dann gibt es da noch das ganz individuelle Erleben, die ganz eigenen Meilensteine, Schicksale, Unfälle, Verkettungen, un- aber auch überglücklichen Fügungen. Bei meinen aktuellen Patienten sind es meist ein kompliziert gebrochenes Bein nach einem Sturz von der Leiter oder eine ausgekugelte Schulter nach einem Fahrradsturz, die ein Leben von “vorher” und “nachher” definieren. Dabei ist eine nicht ungewöhnliche Frage: Wird das wieder wie früher?

Würde es nicht so erschütternd klingen, wäre die direkteste und klarste Antwort: NEIN. Doch meist braucht es eine bessere, sensible Verpackung, damit es die Patienten verdauen können. Doch ehrlich gesagt: es wird nie wieder so sein, wie es einmal war. Weil es ein Ereignis gab, das alles verändert hat. Von daher glaube ich, dass es sinnvoll ist, die Fragestellung zu überdenken.

Den Vergleich von “wie es war” und “wie es ist” sollte man wohlüberlegt stellen. Ganz wahrhaftig ist alles anders. Es gibt eine veränderte Struktur, meist eine sichtbare Narbe, eine neu abgespeicherte Emotion, die Bereiche in ein anderes Licht taucht, besondere Druckverhältnisse, die auf den Körper und Geist eingewirkt haben, anfängliche Bewegungseinschränkungen etc. Was bewirkt dieses Erlebnis in mir? Was erzeugt es für einen Wandel? Wo besteht die Nachhaltigkeit darin? Was bietet es mir, dazuzulernen? – Das sind interessante Fragen. Was wir daraus machen, ist mit einem Ereignis wie einem Unfall von Vornherein noch nicht gesetzt.

Mit der Aussage: “Es wird nicht mehr wie früher sein” findet an sich noch keinerlei Bewertung statt. Meist hört es sich wohl eher nach “Verschlimmerung” an, was mit dem Satz ja noch gar nicht gemeint ist. Wir belegen diese Aussage mit einem Image. Und genau das ist das eigentliche Problem dabei. Jedes Ereignis/ jeglicher Input hat das Potential, auch für mehr Weite und Entfaltung zu sorgen, vielleicht sogar trotz bleibender (motorischer) Einschränkung.

Es bietet auch das Potential, sehr befreiend und lösend sein zu können, jetzt, da alles nun anders ist. Nicht jede Verletzung und Erkrankung, Trennung oder Erschütterung bringt nur Verschlechterung und eine Reduzierung der Lebensqualität mit sich. Diese Ereignisse biete ebenso Aspekte von mehr Wachheit, Bewusstheit, Dankbarkeit, Lebensfreude, Vertiefung, Deutlichkeit, neue Priorisierung uvm. Auch das steckt in einem “nie wieder wie früher”. Eine Krebspatientin findet in ihrem Therapiekarussell trotzdem oder gerade deshalb neuen Raum, sich mit ihrem Sein und nicht nur mit ihrem Tun auseinanderzusetzen. Ein Polytrauma-Patient nutzt die Zeit der Krankschreibung und Regeneration, um seinen Alltag bewusster zu gestalten, neue Hobbies zu entfalten und eine neue Liebe zur Natur zu entwickeln. Die Anfangsphase der Corona- Pandemie hat zu einer größeren Solidarität in mancher Nachbarschaft geführt. Kunden werden herzlicher begrüßt und manch flexibler und verständnisvoller Arbeitgeber mehr wertgeschätzt.

“Wachstum findet außerhalb der Komfortzone statt.” http://blog.tina-knape.de/2019/04/13/inspiration-do-you-dare-to-dream/

Mit jedem Tag, der vergeht, wird es nie wieder sein wie es einmal war. Das ist das Ding mit dem “Hier und Jetzt”. Wir atmen für jetzt, wir können unseren Körper nur im Hier und Jetzt spüren. Es ist nicht möglich, für vorgestern zu atmen und auch nicht für in 4 Stunden. In jedem Augenblick sterben Zellen in uns und gleichzeitig finden andernorts Regeneration und Erneuerung statt. Vielleicht sind wir gar nicht für Gleichbleibendes geboren, sondern für den stetigen Wandel? Wollen wir wirklich nach einschneidenden Erlebnissen verschiedenster Art, dass es immer wieder so ist wie früher?

Vielleicht so viel: Es muss nicht immer nur bedrückend sein, dass es nie mehr wird wie früher! Manchmal ist es auch ganz wunderbar. Machen wir das beste daraus.

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