Erzähl Deine Geschichte ganz genau

Foto: P. Vondran

Am Anfang jeder Behandlungsserie steht das Erstellen eines Befundes. Dazu braucht es den wichtigen Unterpunkt: Historie. Dabei gilt es von zwei Seiten wach zu sein — der Therapeut, der aufmerksam nachfragt und sich das Geschehen eines Unfalls oder des Entstehens der Beschwerden genau anhört. Und der Patient selbst, der im optimalen Fall ausführlich berichten kann, was sich genau wie und wo zugetragen hat.

Wie leicht lassen wir uns in unserer Vorstellung und mit dem Abgleich unserer eigenen Erfahrungen vom Erlebnis des Gegenübers ablenken. Was ist beispielsweise mit der Aussage “Ich hatte einen Autounfall” wohl gemeint? Überraschend stellt sich bei genauerem Nachfragen und der nötigen Offenheit heraus, was sich in diesem speziellen Fall als Patientengeschichte ereignete. Neulich hatte ich diese Situation. Mein Patient hatte noch immer Beschwerden an der Schulter, ein Jahr nach einem Autounfall. Nach mehrmaligen Nachfragen meinerseits auf Grund der Vielfalt der Verletzungen und seiner damaligen Rippenbrüche erzählte er mir, dass er nach einem Auffahrunfall, der harmlos verlaufen war, ausstieg und beim Absichern der Unfallstelle von einem weiteren Auto erfasst wurde und sich dabei all die schweren Folgeverletzungen zuzog. Ich hatte beim Stichwort “Rippenfrakturen” noch an den Druck des Sicherheitsgurts gedacht, doch stattdessen ereigneten sich diese Verletzung außerhalb einer schützenden Karosserie. Das erklärte auf ganz andere Weise die Schwere der Verletzungen.

Auch bei weniger komplexen Verletzungsgeschehen ist es hilfreich, detailliert berichten zu lassen bzw. wachsam nachzufragen, um das Ereignis und die Zug- und Druckkräfte sich wirklich verdeutlichen zu können. Daraus lassen sich leichter spezielle betroffene Strukturen oder sogar verschiedene Wundheilungsphasen ableiten http://blog.tina-knape.de/2020/08/26/wundheilungsphasen-leicht-erklaert/ . So ist ein “ich bin mit dem Fuß umgeknickt” auch nicht für Jedermann gleich. Vor allem sind auch die Dauer der Belastung, die vorher herrschte (am Ende eines Halbmarathons oder morgens direkt nach dem Aufstehen) eine vollkommen andere Aussage. Mit diesen Informationen lassen sich ebenso leichter eventuelle Regenerationszeiträume ableiten.

Wirklich erstaunlich ist, was für Assoziationen http://blog.tina-knape.de/2021/05/13/assoziationsketten-durchschauen/ in unserem Kopf stattfinden, anstatt vielleicht wirklich mit dem speziellen Ereignis deckungsgleich zu sein. Dieses Abstand nehmen von der eigenen Vorstellung und dem klaren, neutralen Nachfragen, WAS sich genau ereignet hat, ist ein wesentlicher Schlüssel einer Befundung. Zusätzlich ist es möglich, rauszuhören, WIE jemand was erzählt. Auch die Wiederholung der Geschichte, sie für den Arzt, den Therapeuten, den Nachbarn zu rekapitulieren, löst häufig auch zu einem späteren Zeitpunkt auf der emotionalen Ebene unterschiedliche Reaktionen aus.

Um sich gut verstanden zu fühlen (und das ist auch wahrlich außerhalb der Therapie so), ist es wichtig, ein wachsamer Zuhörer zu sein, Raum zu lassen für das Erleben des Anderen http://blog.tina-knape.de/2021/06/10/rahmen-und-raum/ und sich in die Worte und Beschreibungen des Gegenübers einzulassen und sie aufzugreifen. Es bietet einen anderen Boden, eine vertrauensvolle Verbindung einzugehen und sich gesehen und verstanden zu fühlen. http://blog.tina-knape.de/2020/11/12/sehen-und-gesehen-werden/

Neulich hatte ein Patient einen Stromunfall. In meinem Kopfkino hatte ich eine Idee, was das wohl heißt. Beim genaueren Nachfragen seiner Geschichte kamen so viele andere Details zutage, dass ich über meine vorschnellen Hypothesen erstaunt war. Wie wichtig war dieser Abgleich! Gleichzeitig war es auch für den Patienten intensiv, den Hergang des Unfalls noch einmal genau zu erinnern und zu beschreiben, wie er mit welcher Hand etc. wo genau hingefasst hat (mit oder ohne Handschuhe). Wann tauchten was für Symptome auch Wochen später noch auf, die anfangs noch gar nicht erkenntlich waren? Ein eindrückliches Beispiel, dass es so wichtig ist, als Patient seine Geschichte ganz genau zu erzählen — und gleichzeitig auf der therapeutischen Seite war es nötig, wachsam nachzufragen, um nicht von seinem eigenen Ideenmodell abgelenkt zu sein. Die Story des Patienten auf den Befundbogen zu bekommen und bei den weiterführenden Behandlungen im Kopf zu haben: das ist das Ziel und der Nutzen.

Erzähl genau und hör gut zu!

Ein Kommentar zu “Erzähl Deine Geschichte ganz genau

  1. Britta Seume-Zine

    Liebe Tina, da hast du den Kern erwischt. Mir wurden auch nach mehrmaligem Erzählen einer Geschichte plötzlich Zusammenhänge bewusst. Aber und das ist superwichtig, es braucht die richtigen Fragen. Danke dir, dass du hinterfragst!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert