Alles hat seine Zeit

“Die Zeit verwandelt uns nicht, sie entfaltet uns nur.” Max Frisch

Ein Freund von mir arbeitet im pädagogischen Sektor und spricht bei seiner Arbeit mit Kindern und Jugendlichen vom “Fenster der Gelegenheiten”. In seinen Augen ist es wichtig, für die richtigen Verknüpfungen und Entwicklungen das geöffnete Zeitfenster zu nutzen, bevor es sich wieder schließt.

Im therapeutischen Bereich begegnet mir ‘Zeit’, insbesondere bei traumatischen und einschneidenden Erlebnissen, eher anders. So öffnen sich bei manch krassen Ereignisse (vor allem auf emotionaler Ebene) Zeitfenster erst nach Jahren wieder ganz langsam.

Unterstützende Methoden auf dem Weg dahin sind jegliche Art der Wahrnehmungsentwicklung und des Spürens des eigenen Körpers sowie das Durchschauen von eigenen Sichtweisen und Mustern. Dazu nehme ich in diesem Artikel Bezug: http://blog.tina-knape.de/2021/02/18/verbindungen-schaffen/. Durch die Auseinandersetzung von vielen kleinen Eindrücken, Geschichten, Schmerz und Ängsten meiner Patienten entsteht eine neue Verbindung und ein verbessertes sich-wieder-Spüren. Auch diese Fragestellung ist dafür hilfreich: http://blog.tina-knape.de/2021/03/04/macht-es-eng-oder-macht-es-weit/.

Es fühlt sich in etwa an, wie einen “Faden-wieder-aufnehmen”, der durch die Größe des Ereignisses nicht zu halten war — Körper und Geist hatten diesen Faden als eine Art Schutzmechanismus einfach abgeschnitten. Doch nach unterschiedlich langen Zeiträumen (von Monaten bis Jahren, gar Jahrzehnten) taucht er mit dem Wunsch nach Verknüpfung wieder auf bzw. klopft so laut, um gesehen und wieder aufgenommen zu werden. Vermutlich wird es nie wieder wie früher http://blog.tina-knape.de/2020/07/16/nie-wieder-wie-frueher/, doch integrierter.

Zwei besonders nachhaltige Patientenbeispiele fallen mir hierzu ein. Ein liebenswerter und wacher Patienten bekam mit dem Beginn einer regelmäßigen Meditationspraxis Beschwerden im Nacken; eher nicht mechanisch ausgelöst, sondern subtil. Stück für Stück näherten wir uns thematisch auf der Behandlungsbank dem an, was da als großes Überraschungspaket lauerte: Seine Eltern waren 10 Jahre zuvor auf dramatische Art und Weise ums Leben gekommen. Zu dem Zeitpunkt war er ein erwachsener Mann, gerade frisch mit dem Studium fertig, der eine eigene Familie gründete und keinen Raum hatte, um in verdaulichen Dosen dieses persönliche Drama ausreichend zu verdauen. Nach vielen Jahren ploppte es durch die Meditation nun wieder an die Oberfläche und bahnte sich seinen Weg. Denn auch ein Trauma hegt immer den Wunsch, in irgendeiner Form integriert zu werden. Viel später war in seiner Vita dann die “Zeit reif” und die Rahmenbedingungen da, sich diesem Ereignis nochmals zu widmen.

Ähnliches begegnete mir neulich mit einer vielseitig Therapie-erfahrenen Patientin. Nach vielen Jahren des Inputs in Form von Osteopathie über Physio- und Psychotherapie bis hin zu OPs hatten sie jetzt eine Art Durchbruch und konnte ein “nicht spüren können” plötzlich anders zuordnen. Eine Tür in ihr ging wieder auf, die sie seit ihrer Kindheit möglichst verschlossen hielt, weil diese Erfahrungen so übergriffig waren. Jetzt beginnt eine neue Zeit für sie. Sie kann darüber sprechen, kann es benennen. Jetzt kann sie sich dem stückchenweise stellen, Verbindungen wieder in sich zulassen und auf einer anderen Ebene weiterarbeiten, auf die sie sich nun (mit Begleitschutz) traut.

Ich konnte förmlich spüren, dass “alles hat seine Zeit” bei ihr ebenso zu traf. Unsere Psyche kann einen eigenen zeitlichen Schutz aufbauen, sodass wir von Großereignissen nicht überflutet werden, sondern diese erst einmal verkraften und “überleben” können. Und mit Zeitverzögerung (und oft dann, wenn wir in eine Phase der Ruhe kommen und sich dafür Gelegenheit bietet) taucht das Thema wieder auf. Um den Berg des Noch-zu-Verarbeitenden aber nicht zu groß werden zu lassen, lohnt sich die Arbeit mit dem Ausbauen des Seins. http://blog.tina-knape.de/2020/10/15/to-be-liste/ Ähnliche Teiletappen-Arbeit kenne ich bei Fällen zum Thema Trauer und unerwarteten Schicksalsschlägen.

Vielleicht sind wir wie ein Haus mit vielen Zimmern. Manche Zimmer sind uns vertrauter, andere weniger. Bei manchen Räumen versuchen Körper und Geist die Türen möglichst fest zu verriegeln, doch findet vielleicht trotzdem auch intern ein Stück “Reife” statt. Vielleicht ist ein schönes Lebensziel http://blog.tina-knape.de/2020/06/04/hausaufgabe-21-lebensziele-aufschreiben/, zu allen inneren Räumen Zugang zu haben und vielleicht sogar in manchen tanzen zu können.

Alles hat seine Zeit. Wahrnehmung ist der Weg.

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