Staunen, was Menschen können

Durch meinen veränderten Arbeitsschwerpunkt habe ich nicht nur einen erweiternden Blickwinkel (siehe auch: http://blog.tina-knape.de/2020/07/09/blickwinkel-als-helfer/), sondern verschieben sich auf neue Art und Weise persönliche Verletzungsschicksale meiner Patient*innen und lösen ein großes Staunen in mir aus.

Ich staune — über vollkommen neue Transplantationstechniken, bei denen etwa körpereigenes Material aus dem Oberarm entfernt und am Unterschenkel wieder eingepflanzt wird. Der Körper kann damit erstaunlicherweise irgendwie umgehen und es in den meisten Fällen annehmen und verwachsen lassen.

Oder ich staune über Einzelschicksale wie das folgende. Zwei Jahre nach seinem Unfall mit Sturz aus 6m Höhe sitzt mein Patient vor mir, packt sein Telefon in die Tasche und erzählt Auszüge aus seiner Geschichte: “Ich war 16 Monate in der Klinik nebenan. Zweimal Weihnachten, zweimal Silvester. Ich kenne da nach all der Zeit fast alle Mitarbeiter. Die ersten Monate konnte ich nicht mal meinen Freunden eine Nachricht selber tippen, weil ich nicht einmal das Handy halten konnte.” Und jetzt sitzt er hier, durchaus immer noch motorisch eingeschränkt, aber allein zu Fuß unterwegs und wir überlegen gemeinsam, was neue Ziele für ihn sein könnten. Vielleicht irgendwann mal wieder Fahrrad fahren?

Ich staune über Bauarbeiter aus dem Ausland, die fernab der Familie mit Landsleuten hier leben, um Geld für ihre Familien zu verdienen und nach einem unerwarteten Unfall nun ohne Sprachkenntnisse die Mühlen der Krankschreibung und deren Folgen durchlaufen und sich irgendwie meist tapfer über Wasser halten.

Ich staune auch über junge Verunfallte, die mir, mit einer Prothese versorgt, nach harter, konsequenter, disziplinierter Arbeit mit einem Lächeln im Flur begegnen und ich erst auf den 2. Blick erkenne, dass unter der kurzen Hose ein Carbon-Unterschenkel hervorschaut… und dabei beobachte ich mit Physio-Augen ein Gangbild sehr genau. http://blog.tina-knape.de/2020/01/24/gangschule-was-ist-das/

Ich staune über Kompensationen. http://blog.tina-knape.de/2019/05/11/ein-hoch-auf-die-kompensation/ Manch Patient*in kommt trotz motorischer Einschränkungen selbstständig durch den Alltag. Eine andere Form von Herausforderung und verändertem Hier und Jetzt wird ihr neues Sein. Es ist möglich, auch noch so große Veränderungen anzunehmen. Was schlagen wir uns manchmal in einem vollgestopften Alltag mit einem lästigen Mückenstich oder vertretenen Sprunggelenk herum… Priorisierung geht auch so anders.

Und deswegen bin ich zutiefst berührt, wenn ich dieses Video sehe:

Augen und Herz auf!

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