Gangschule– was ist das?

Manchmal sind die alltäglichsten Dinge für ein Bewusstseinwerden oder einen Wandel am effizientesten. Jeder, der sich einmal am Fuß verletzt hat oder eine Knie-OP hatte, wird mein aktuelles Beispiel nachvollziehen können– unser Gang.

Als Kleinkind ist es eine uns angelegte Zielsetzung, irgendwann wie die Größeren um uns herum, aufrecht und frei zu stehen und erste Schritte vorwärts zu machen. Als Physio-Mama werde ich manchmal unglücklich, wenn ich auf dem Spielplatz mit ansehen muss, wie viel zu früh versucht wird, dass beispielsweise ein (fast-) Einjähriger vorwärts gehen soll. Das Kind muss mit selbstständigen Seitwärtsschritten erst einmal genug eigene Stabilität, Muskelkraft, Balancegefühl und Tiefensensorik entwickeln. Deswegen an alle frischgebackenen Eltern: Keine Sorge! Das Kind hat von ganz allein den Impuls, zur richtigen Zeit, die Füße voreinander zu setzen. Doch zuerst kommt eben seitwärts– am Regal, an der Sandkastenkante, am Sofa entlang… Es braucht Raum für diverse interessante Versuche, sich auszuprobieren; und um zu spüren, was wie geht und um die ganzen neuen, unerfahrenen Muskeln adäquat zu trainieren. Also nur als kleine Randbemerkung: Lasst den Babies und den Kleinkindern mit einer normalen Entwicklung einfach ihre Zeit. Es kommt. Irgendwann gehen sie von alleine vorwärts. Wenn sie von selbst beschließen, loszulaufen, dann tun sie dies stabiler, sicherer, selbstkontrollierter und schöner. Die B-Note ist auch wichtig ;). Deswegen: Geduld und Ruhe, um den eigenen Bewegungsdrang des Kindes zu beobachten und zu vertrauen, dass alles wird, wenn es so weit ist.

Dass mit der Geduld ist auch als Erwachsener, wie hier am Beispiel einer Verletzung der unteren Extremität beschrieben, empfehlens- und erstrebenswert: Beobachtungsgabe übrigens auch ;). Weil es genau darum bei der Gangschule geht.

Gangschule war früher im Praktikum in der Rehaklinik eine seltsame Therapieart für mich. Es kam mir so vor, als würde man mit frisch operierten meist Knie- oder HüftTEP-Patienten, gemeinsam nur über den Flur spazieren gehen. So sah es zumindest oft für mich aus. Doch je länger ich als Physiotherapeutin arbeite oder Menschen mit Gehstützen (oder ohne) im Alltag gehen sehe, umso besser verstehe ich die Bedeutung der Wahrnehmung und der Schulung des Gangs.

Ein Beispiel: Ein junger Patient hat sich bei einem Unfall mit dem Roller sein rechtes Knie verletzt. Er wird konservativ versorgt und bekommt anfangs eine Ruhigstellung mit einer Schiene und zwei Unterarmgehstützen. Jung hin oder her: Auch er muss irgendwie in den 1. Stock kommen, und das im besten Fall nicht nur auf einem Bein hüpfend.

Faustregel Nummer 1: Treppe aufwärts: “Oben scheint die Sonne”–gesundes Bein zuerst. Die Stützen bleiben immer beim verletzten Bein, sie sollen ja (unter-)”stützen”. Treppe abwärts: “Unten ist es dunkel”– verletztes Bein (inklusive Stützen) gehen zuerst treppab. (Grundsatzempfehlung: Wenn ein Geländer zur Verfügung steht, am besten immer benutzen, denn es ist einfach viel stabiler.)

Wenn man das schon einmal verstanden hat, ist man ein schlauerer Patient.

Wie lange und wie intensiv man Gehstützen benutzen soll, verrät einem der behandelnde Arzt oder Therapeut. Es gibt da nämlich wichtige Wundheilungsphasen, die es zu beachten gilt. Auch Zellen brauchen ihre Zeit, um zu regenerieren und zu genesen. (Dazu folgt demnächst ein separater Blogpost.) Je nach Grund des Handicaps– beim flüssigen Gang gibt es verschiedene Steigerungen von Entlastung über Teil- bis Vollbelastung. Manche Patienten glauben, es ist eine clevere Idee, eine der beiden scheinbar lästigen Unterarmstützen in die Ecke zu stellen. Nun, meist ist es das nicht. Jeder Physiotherapeut sieht, ob das abgesprochen war oder nicht. Unerfahrene Patienten verraten sich dann dadurch, auf welcher Körperseite sie die Stütze behalten haben. Hier gibt es die Faustregel Nummer 2: Bei nur einer Gehstütze, gehört diese auf die nicht-betroffene Seite.

Ich führe meinen ungläubig guckenden Patienten gerne vor, warum es so ist, wie es ist. Wir gehen als Menschen nicht im sog. Passgang. Und wenn doch, dann sind das coole Jugendlichen, deren Hose zu tief hängt und die diese sonst verlieren würden. Natürlicherweise gehen wir im sog. Kreuzgang. Das heißt: Die Stütze muss auf die gegenüberliegende Seite. Übrigens gilt das auch beim Gang mit Nordic Walking Stöcken. Alles andere sieht ulkig aus und fühlt sich verquer an. Probieren Sie es einfach mal aus: Gehen Sie zügig ein paar Schritte und beobachten einmal, was Ihre Arme machen. Richtig, entgegenpendeln! Und das ist auch gut so und nötig, weil das uns gleichzeitig eine verbessere Stabilität verschafft und somit die beste Fallprophylaxe ist.

Es folgt Faustregel Nummer 3: Flott gehen verhindert Stürze, weil unsere innere körperliche Stabilität besser gewährleistet wird. Das ist besonders bei älteren oder unsicher gehenden Menschen, die aus Vorsicht ihr Tempo stark reduzieren und dadurch erst recht Fall-gefährdeter sind, so. Arme schwingen lassen ist super und gesünder– und sieht dynamischer aus.

Das bringt uns zum nächsten Punkt. Symmetrie! Egal, ob wegen des Schmerzes humpelnd oder mit Gehstütze post-OP: gleich große Schritte sind ein erstrebenswertes Muss. Der (kompensierende) Klassiker ist eine verkürzte Schrittlänge beim fitten Bein und ein besonders langer Schritt durch die Luft beim betroffenen Bein. So soll es im besten Fall nicht sein. Kompensation ist toll http://blog.tina-knape.de/2019/05/11/ein-hoch-auf-die-kompensation/, aber es ist auch gut, den Körper in seiner Physiologie zu unterstützen. Also Faustregel Nummer 4: möglichst gleich lange Schritte, egal, ob mit Stützen oder nicht. Akustische Feedback-Unterstützung erhalten wir, wenn wir auf das Klacken der Schuhe auf dem Boden achten. Ist da ein Rhythmus tak, tak, tak oder klingt es eher wie taktak, taktak, taktak? Die Schrittlänge können wir durch Gehwegplatten visuell unterstützt wahrnehmen.

Was es noch braucht? Bewusste Kontrolle des Gangs, immer wieder über den Tag hinweg. http://blog.tina-knape.de/2019/08/30/daily-hustle-in-den-alltag-einbauen/ Suchen Sie sich Teilsequenzen auf Ihrem Weg zum Arzt oder zum Job, indem Sie bewusst von einem Baum bis zur nächsten Hausecke auf Ihren Gang acht geben. Wie klingt es? Wie fühlt es sich an? Ist es evtl. mit ein bisschen mehr Schmerz möglich, eine rundere, physiologischere Bewegung auszuführen? Faustregel Nummer 5: Achtsamkeit und Wahrnehmung für den Gang sowie den Fluss in den Bewegungen in kleinen Teilabschnitten Ihres Tages. Wie rollt der Fuß ab? Wie ist das Knie gebeugt oder nicht? Was passiert eigentlich in der Hüfte?

Und wirklich nicht zu unterschätzen ist die Faustregel Nummer 6: Die B-Note! WIE sieht das Ganze wohl aus? Mit Haltung und grazil wie eine Queen (oder ein Popstar), der sich auch mit einer motorischen Einschränkung in keinster Weise etwas von seiner Präsenz und Größe rauben lässt? Man kann auch mit geschwollenem Fuß, Gehstützen oder Knieverband noch wunderschön, sexy und anmutig aussehen. Und man hat auch noch eine spannende Geschichte zu erzählen ;).

Okay– ein Resümee: Auch bei der Gangschule mit ihren vielschichtigen Gründen, sollte mehr Aufmerksamkeit in die Wahrnehmung und das Gespür investiert werden. Armpendeln ist toll und braucht ein gewisses Gangtempo und Raum dafür (das spürt man auch, wenn man stets einen Kinderwagen vor sich herschiebt und die Arme nie frei schwingen). Auch mit einer Einschränkung oder/und einem Schmerz im Bein ist es möglich, eine runde, flüssige Bewegung auszuführen– vor allem mit Gehstützen, denn dafür sind sie da. Suchen Sie sich Trainingsstrecken in Ihrem Alltag, die Ihnen dabei helfen, auf unterschiedlichen Untergründen erste Stabilisierungsübungen anzuwenden und das Vertrauen in die Beine wieder auszubauen. Sie sehen: Gangschule ist so viel mehr, als nur über den Flur spazieren zu gehen.

Gangschule ist wahrlich nicht nur für “Patienten”, sondern auch ohne Beschwerden in unserem normalen Alltag eine Möglichkeit, unsere Wahrnehmung auf unseren Gang und das Abrollen der Füße zu lenken. Wie ist unser Kontakt mit Mutter Erde? Wie fühlt sich der Fuß im Schuh und in seiner weiterlaufenden Bewegung im Körper an? Wie frei schwingen meine Arme mit? Was sagt mein Gang aus? Wie ist meine Ent- bzw. Spannung und der Fluss in meiner Bewegung?

Eine wunderbare und simple Übung, die uns zum Guten immer wieder ins Hier und Jetzt bringt. Let’s walk!

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