In meinem Arbeitsalltag begegnet mir die Vorstellung der Patienten, dass ein Körper grundsätzlich perfekt, symmetrisch http://blog.tina-knape.de/2022/01/06/schokoladenseite-oder-symmetrie/, gerade gebaut sein muss — und das Ziel der Therapie ist, diese Perfektion wieder herzustellen.
Nun, ein Körper ist wunderbar, auf seine ganz individuelle Art gar perfekt. Er kann Belastungen aushalten, zum Teil aberwitzige Bewegungen ausführen, ungesunde Monotonie abfedern. Er kann sensationell kompensieren. http://blog.tina-knape.de/2019/05/11/ein-hoch-auf-die-kompensation/ Nichtsdestotrotz ist zu bedenken, dass sich “Perfektion” in diesem Fall nicht immer als “Wirbelsäule kerzengerade” zeigt. “Perfekt” ist nicht gleichzusetzen mit “frisch produziert” wie aus einer Maschine.
In einer Hamburger Chiropraktik – Praxis hängt von der Zimmerdecke ein Lot. Das Ziel des Chiropraktiker ist, die Patienten nach dem Einrenken wieder auf diese senkrechte Linie auszurichten. Nun, in meinen Augen ist das ambitioniert und realitätsfremd. Unser Körper ist pure Natur, mit all den Facetten, die das Wunder Natur nun einmal bietet. So gibt es klein und groß, dick und dünn, krumm und gerade. Proportionen und Relationen sind meist relevanter. Und selbst wenn, wie lange hat diese Art der Aufrechte Bestand?
Doch auch in der Gemüseabteilung eines Supermarktes wird eine linienförmige und “perfekt aussehende” Gurke wohl deutlich häufiger gekauft. Auch da gibt es das Bestreben, es “wie von der Stange” anzubieten. Beim Schlendern über einen Bio – Bauernmarkt hingegen, sieht man auch krumme und individuell gewachsene Salatgurken. Der Geschmack ist identisch. (Schönes Bild. So ist es im besten Fall ja auch im Kern eines Menschen, dass die “Verpackung” nicht automatisch Rückschlüsse auf die inneren Werte darstellen kann.)
Anderes Beispiel: Im Advent waren wir auf einem Weihnachtsbaumverkauf, bei dem Jedermann/ -frau sich seinen optimalen Baum aussuchen und selbst absägen kann. Das ist nicht nur ein schönes Familienevent. Es ist auch ein gelungenes Beispiel, um schon den Kleinen aufzuzeigen, dass es den “perfekten” Wuchs des Baumes so nicht gibt (oder eben alle auf ihre Art vollkommen sind?!). Jeder Besucher bekommt die Chance, seinen Tollsten mitzunehmen und das nach ganz individuellen Ansprüchen, was das wiederum heißen mag ;). Die meisten Standard – Bäume wurden vorher schon vom Anbieter abgesägt und standen im klassischen Verkaufsfeld. Was es auf dem aufgeforsteten Waldstück vor allem noch an Bäumen zu entdecken gab, waren kleine und große individuelle Exemplare. Imperfekt, aber eben dadurch besonders. Jeder Besucher konnte “seinen Baum” finden. Manche Bäume waren im leichten Bogen gewachsen, andere hatten drei Spitzen, wieder andere waren unten schmal, oben breit.
Sicher ist ein ungefähres mittiges Lot hilfreich und sinnvoll, um aufrecht und standhaft zu stehen, egal, ob als Baum oder Mensch. Andererseits macht eine individuelle Abweichung es nicht zugleich zu einem unbrauchbaren Baum oder eingeschränkten Menschen. In solchen Momenten finde ich es sinnvoll, unseren Anspruch zu hinterfragen.
Ähnlich, wie der Stamm im Baum, stellt bei uns die Wirbelsäule eine Art Lot und Mittellinie dar. Es ist “gesund”, wenn sie aufrecht ist, doch braucht auch unser Rückgrat zum Abfedern die Schwingungen von Lordose (Hohlkreuz) und Kyphose (Rundrücken). Es ist hilfreich, wenn unser Körper ausgewogen und aufrecht ist, in vielerlei Hinsicht. Doch das allein ist kein Garant für Schmerzfreiheit oder ein beschwerdefreies Leben. http://blog.tina-knape.de/2021/10/28/therapieziel-gute-bewegungserfahrung-sammeln/ Zu berücksichtigen gibt es eher Punkte wie: Wie sind die Proportionen zueinander? Wie ist der Allgemeinzustand? Wie ist das Umfeld http://blog.tina-knape.de/2020/02/21/fuer-gute-nachbarschaft-im-koerper-sorgen/? Geht eine achsenabweichende Krümmung der Wirbelsäule aktiv auszugleichen? Was für eine Stabilität/ Instabilität zeigt sich?
Ausgeweitet auf das Feld der Emotionen: Für Psychotherapeut*innen und Coachs stellt eine “gesunde Mittellinie” ebenso eine Orientierung dar. Jegliche Auffälligkeiten, die aus der Mitte zu arg und beeinträchtigend grätschen, gelten als Therapie bedürftig. So entwickeln wir im besten Fall selbst ein Gespür, wenn wir innerlich aus dem Lot kippen und emotionale Hilfe benötigen. Meist ist das schwieriger einzuschätzen und zu diagnostizieren, als bei rein körperlichen Beschwerden, da es nicht so sichtbar ist wie ein humpelndes Gangbild. http://blog.tina-knape.de/2020/01/24/gangschule-was-ist-das/ Doch die Wichtigkeit und das Berücksichtigen braucht eine vergleichbare Aufmerksamkeit.
Somit ist ein Lot, was von einer Decke hängt, vielleicht eher als eine Orientierungslinie zu verstehen. Es gibt ein anzustrebendes Optimum, dass “alles im Lot ist”, egal, ob Wirbelsäule, Gurke, Baumstamm und auch seelische Verfassung. Doch keinesfalls ist es eine alleinige Zielsetzung, die mit ein paar einrenkenden, manipulativen Handgriffen wieder “gerade zu biegen” ist. Manches braucht Zeit. Anderes braucht umliegende Strukturen, die ihrerseits auch in Bewegung kommen und gelöster sind. Gute Nachbarschaft. Gewachsene Stabilität, um mit dem nächsten Reiz nicht so leicht, den Wirbel oder den Geist erneut aus der Bahn zu werfen. Ein Priorisierung, wohin die Kräfte zu lenken sind. Selbstverbundenheit im (Im)Perfekten.
Was tun Sie, um wohlig in Ihrem Lot zu bleiben?
Fein! Guter Start in den Tag! Liebe Grüße