Das Glas abstellen können

Foto: P. Vondran

Heute habe ich eine bewegende Geschichte aus dem Coaching-Sektor und sie geht so: Eine Seminarleiterin steht vor ihrem Kurs und hält ein halbvolles (oder halbleeres ;)) Wasserglas in die Höhe. Sie fragt: “Wie schwer ist das Glas?”

Es gibt verschiedene Antworten von den Teilnehmern. Dann sagt sie: “Die Frage ist falsch gestellt. Richtiger formuliert lautet sie: Wie lange muss ich es halten?”

Das ist das Sinnbild für Stress — egal, ob auf emotionaler oder körperlicher Ebene. Ob man ein Glas 3 Minuten oder 3 Stunden oder 3 Tage hochhält, macht einen sehr großen Unterschied. Die Lehre daraus: Wir dürfen nicht verpassen, das Glas zwischendurch auch abzustellen.

Viele kleine Beispiele dazu begegnen mir in meinem Alltag, nicht nur im Beruflichen. Zwei Mal die Woche habe ich die Möglichkeit, vor der Arbeit einen tollen Kaffee zu trinken. http://blog.tina-knape.de/2019/06/02/kaffee-trinken-fuers-gemuet/. Mein “Barista” schiebt aktuell Zusatzschichten, findet gleichzeitig schwer in seinen Feierabend, weil immer noch wichtige Arbeiten und Aufgaben anstehen und hilft zusätzlich noch beim Umbau des neuen Ladens. Das Pensum, das er gerade in seinem Alltag bewältigt, ist hoch (und der Kerl hat Power), doch resultiert seine Erschöpfung wohl eher daraus, dass er zwischendurch seine persönliche Kaffeetasse zu selten abstellt, um durchzuatmen und zu regenerieren. Er sorgt auf so leckere und aufmerksame Art und Weise mit seinem Cappuccino für eine Pause seiner Kunden oder einen gelungenen Start in den Tag, während er selbst immer müder wird und aussieht. Tasse abstellen! Frei nehmen, genießen lernen!

Mich persönlich hat diese Geschichte des “Spannung haltens” an einer anderen Stelle berührt. In einem kurzen Urlaubsvideo von mir auf einem Boot in Kroatien, schaute ich mir im Nachhinein selbst dabei zu, wie ich das “Erziehungsglas” selbst an einem so besonderen Ort nicht ausreichend abstellen konnte. Stattdessen höre ich mich — trotz guter Laune, schönem Wetter, entspannter Stimmung und super Musik im Hintergrund — auf dem Video sagen, was die Jungs wieder einmal “nicht sollen”. In dem Beispiel: keine Fische mit Brötchen füttert. Puh. Das wäre mit mehr Bewusstsein in dem Moment für mich eine gute Gelegenheit gewesen, auch Erziehungsmaßnahmen für eine Weile ruhen zu lassen und nicht mit an Bord zu nehmen. Diese Erkenntnis kam erst in der Retrospektive. http://blog.tina-knape.de/2020/11/05/schoene-momente-box/

Dieses Phänomen des stets Grundspannung-Haltens begegnet mir auch während meiner Arbeit auf körperlicher Ebene. Eine Patientin besitzt eine hohe Grundspannung im Körper. Für sie wird es durch Aktivität erträglicher, doch es bleibt in einer kleinen Amplitude von “Anspannen” und “Entspannen”. Richtig austoben oder voll und ganz runterfahren gibt es für sie nicht. Sie findet immer wieder kleine Aufgaben, die es zu erledigen gilt. Loslassen ist nie so richtig möglich und auch ihr Körpertonus variiert nicht sehr. Selbst nach einer einstündigen Behandlung bleibt ein hoher Tonus bestehen. Ihr Körper (und vermutlich auch Geist) hat sich über Jahre angewöhnt, stetig auf Spannung zu bleiben und das symbolische Glas nie ganz abzustellen. (Blogpost zu “Innerer Antreiber” folgt.)

Wie wichtig ist doch hingegen auch eine Pause http://blog.tina-knape.de/2020/10/22/mach-mal-pause/.

Wie sieht es bei Ihnen aus? Nutzen Sie diese Geschichte, sich selbst zu fragen: Wann haben Sie Ihr persönlich stressbeladenes, anstrengendes Feld mal wie ein Glas abstellen können, um zu regenerieren und durchzuschnaufen? Was treibt Sie an, das Glas stattdessen hochzuhalten? Dafür gibt es vermutlich viele wichtige, scheinbar unerschütterliche Gründe. Stellen Sie diese Argumente noch einmal auf den Prüfstand. Sind sie in manchen Punkten nicht vielleicht fraglich oder überholt?

Werfen Sie zusätzlich als Gegengewicht den Gewinn einer Pause und die Chance auf Abbau der Grundspannung mit in die Waagschale, um zu sehen, wie viel mehr Gleichgewicht entstehen kann und wozu das führt.

Hand aufs Herz: Wo halten Sie schon über eine längere Zeit starr “das Glas” in der Hand? Wann haben Sie es das letzte Mal abgestellt?

Ein Kommentar zu “Das Glas abstellen können

  1. Britta Seume-Zine

    Liebe Tina,
    Danke für diesen Beitrag. Die Geschichte mit dem Glas passt so haargenau!
    Ich werde meines heute abstellen und fahre nicht zu meiner Mutter!
    Danke, Danke, Danke!!!
    Britta

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