Mit einem Schmunzeln begegneten mir innerhalb einer Woche zwei Schulter- Geschichten, die ich gern weitererzählen möchte.
Eine Patientin hatte sich bei einem Fahrradsturz eine ausgekugelte (luxierte) Schulter zugezogen. Nun war sie nach einigen Wochen gut verlaufender Wundheilung http://blog.tina-knape.de/2020/08/26/wundheilungsphasen-leicht-erklaert/, konservativer Versorgung und begleitender Therapie wieder recht fit und beschloss, am Wochenende ins Freibad zu gehen. Nach mehreren Bahnen Kraulen bemerkte sie ein leichtes Ziehen und ein minimales Instabilitätsgefühl. Ihr zu erklären, was für Hebel und Kräfte mit gestrecktem Arm im Wasser dabei auf das Schultergelenk und den stabilisierenden Muskel-Band-Kapsel-Apparat wirken, war nicht schwer. Sie verstand, dass es anfangs wieder um ein gutes Dosieren gehe. Was sie auch sehr mag, ist Fahrradfahren. Das wiederum traute sie sich nach der Verletzung noch nicht wieder zu. Vielleicht könne es weh tun, wenn sie sich auf dem Lenker abstütze? Außerdem sei bei ihren frischen Verletzungserfahrungen ihr klar geworden, dass die Gefahr eines Fahrradsturzes immer bestehe.
Szenenwechsel: Gleiche Praxis, gleiche Woche, eine weitere Schultergeschichte.
Mein Patient hatte sich vor einigen Wochen eine Schulterluxation zugezogen. Er war im Schwimmbad auf den nassen Fliesen ausgerutscht und hatte sich beim Versuch des Abstützens die Schulter ausgekugelt. Auch er konnte danach ohne Operation versorgt werden. Sein Genesen war bisher gut verlaufen, die Beweglichkeit und Kraft zufriedenstellend. Er kam mittlerweile wieder mit dem Fahrrad zur Therapie und sprach mich an, ob ich denn wisse, ob seine Schulter schon wieder Schwimmen aushalten würde? Andererseits traue er sich eher nicht mehr barfuß auf nasse Böden und er hätte sogar Sorge, dass er selbst im eigenen Bad zuhause noch einmal so ausrutschen könne.
So entstand mein Schmunzeln. Verstehen Sie, warum? Zwei Schultern, zwei Geschichten. Wie stark unsere eigene Geschichte und unsere Erfahrungen uns doch prägen! Gleiches Beschwerdebild, gleiche Restsymptome — andere Erfahrungen und daraus resultierend auch eine andere Gefahreneinstufung.
Beleuchten und Reflektieren hilft uns, zu erkennen, was unbewusst verkettet ist. Es ist hilfreich, wieder neutraler hinsichtlich gefürchteten Gefahren zu werden und nicht allein unseren ureigenen Erfahrungsfilter anzusetzen oder unsere persönliche Assoziationskette Dritten aufzuerlegen http://blog.tina-knape.de/2021/05/13/assoziationsketten-durchschauen/.
Nun, von was geht mehr Gefahr aus: Vom Fahrrad fahren oder von einem Schwimmbadausflug? So ist die Frage falsch gestellt. Es braucht ein spüriges Herantasten, um Ängste nach eindrucksvollen, schmerzhaften Erfahrungen wieder kleiner werden zu lassen — körperlich wie emotional.
Ich erzählte beiden Patienten voneinander, wie jeder mir von seinen Verhaltensweisen und Erlebnissen berichtete. Schwimmen geht bei der Einen. Fahrradfahren geht beim Anderen. Der Schwerpunkt liegt in dem Moment nicht allein auf einer strukturellen Behandlung. Es benötigt auch ein Beachtung der Bedenken, wie belastbar Körper UND Geist sind. So empfahl ich der Fahrradsturz- Patientin, im eigenen Hof mit einer Runde Fahrrad schieben zu beginnen, um ihr eigenes Vertrauen wieder zu stärken. Bei gutem Gefühl ist “Aufsitzen” und eine Runde fahren die nächste Stufe. Zusätzlich war ihr Radeln am Ergometer im Trainingsraum (auch mit Stütz) bisher vollkommen beschwerdefrei.
Der ausgerutschte Patient hingegen wagte sich an einem ruhigen Vormittag ins Schwimmbad und entwickelte einen neuen Respekt und mehr Achtsamkeit für Geschwindigkeiten (oder gar Hektik) am Beckenrand. Er nutzte das Medium Wasser, um stehend im Nichtschwimmerbecken einige gezielte Übungen zur Kräftigung seiner Schulter anzuwenden.
Es ist sinnvoll, auf unsere eigene Prägung, Geschichte und Erfahrung Rücksicht zu nehmen. Das Erlebnis von so viel Schmerz und allem, was damit verknüpft ist, bleibt uns bewusst und unbewusst in den Zellen. Gleichzeitig laden auftauchende Sorgen und Ängste dazu ein, immer wieder zu hinterfragen, was uns limitiert und was davon noch zeitgemäß ist. Es lohnt sich, unseren Bewegungsspielraum und unsere Freiheit zu bewahren und auszuweiten. Welch Freude, sich die eigenen Aktivitätsmöglichkeiten zurückzuerobern!
Fällt Ihnen ein eigenes Beispiel ein, welche Erfahrung Sie nachhaltig (eventuell einschränkend) geprägt hat? Wo gibt es etwas zurückzuerobern?
Ganz meine Meinung!
Wieder ein sehr gelungener Beitrag liebe Tina. Auch, wenn mir das Schmunzeln ob meiner eigenen Schulter etwas schwer fiel. LG