Kennen Sie das Phänomen? Sie gehen wegen Nackenbeschwerden zum Physiotherapeuten oder Osteopathen. Zuerst redet sie/er ausführlich mit Ihnen – und dann behandelt sie/er Sie an einer ganz anderen Stelle als Ihrem benannten Schmerzgebiet? Erst einmal: Ein gutes Zeichen!!
Es gibt im Körper die verschiedensten Querverbindungen, viszeralen und muskulären Ketten und Wechselwirkungen der Körperbereiche, auch auf anatomischer Basis. Und so versetze manchmal auch ich während meiner Arbeit Patientin A in Erstaunen, weil ich am Becken anfange zu behandeln, obwohl sie doch eigentlich wegen Beschwerden im Schulter-Nacken-Kieferbereich kommt. Auch wenn ich bei Patient B zum Einstieg den Bauch behandle, obwohl er über Rückenschmerzen klagt, scheint das erst einmal verwunderlich – ist es jedoch nicht! Ganz nach dem Motto “für gute Nachbarschaft sorgen” ist es sinnvoll und nachhaltiger, nicht nur das Schmerzgebiet, sondern die benachbarten Regionen ebenfalls mit im Blick zu haben.
Kennen Sie aus Ihrem Garten Giersch oder eine andere Art von Kraut, das sich gern Raum nimmt, flächendeckend? So ein ähnliches Phänomen gibt es zum Teil auch im Körper. Wenn Beschwerden irgendwo auftauchen, heißt das noch lange nicht, dass nur das lokale Beheben des Schmerzes eine nachhaltige Linderung bringen kann. Vielmehr ist es sinnvoll, großflächiger für einen gut durchlüfteten frischen Boden zu sorgen – und den Verursacher ausfindig zu machen. Auch in den umliegenden Regionen sollte für mehr Raum und Durchblutung gesorgt werden.
Ein anderes Bild ist für Hobbybäcker der Einsatz einer Spritztüte. Beim Zubereiten von Spritzgebäck oder Cremes, die durch den dünnen Ausgang am Ende der Tüte müssen, gilt es, den Teig Stück für Stück durch das Nadelöhr am Ende der Tüte zu befördern. Wenn man beherzt ganz hinten einmal fest drückt, kommt ggf. viel eher ein Desaster oder eine Sauerei als ein gelungenes Endprodukt heraus. Da verlangt es ein peu à peu Freiarbeiten und Fingerspitzengefühl, um einen ganzen Weg frei zu machen und zu der gewollten Dosis des Verträglichen zu gelangen.
Somit geht es darum zu verstehen: Es ist nicht nur das Symptomgebiet selbst, sondern auch oder insbesondere all die benachbarten Gelenke, Muskeln, Gefäße, Nervenverläufe und auch Organe, die Beachtung verdienen. Manches Gebrechen ist lokal und bleibt es auch. Andere Beschwerdebilder sind jedoch komplexer oder bestehen schon über einen längeren Zeitraum – und dafür ist es gut, in größeren Regionen und Dimensionen zu denken, zu fühlen und zu verstehen, dass es sich allein als Kettenreaktion lohnt, auch in das “Drumherum” zu investieren. Und wenn es Ihnen beim Behandeln seltsam erscheint: Fragen Sie doch einfach mal nach! Der Körper ist wirklich ein sehr interessantes Konstrukt!
Ein schlichtes Beispiel: Wenn eine Lendenwirbelsäule vor Schmerz unbeweglich und steif wird, verspannt als Schutzreaktion auch der Bauch. Wenn ein großer Tonus im Rumpf ist, haben die Bauchorgane weniger Raum und Elastizität, mit jedem tiefen Atemzug geschmeidig aneinander zu gleiten (was sie natürlicherweise tun). Damit wiederum ist die Durchblutung der Verdauungsorgane beeinträchtigt. Ist die LWS fest, bewegen sich auch die Hüften nicht frei – vor allem die eingeschränkte Beugung macht sich weiterlaufend in der Lende bemerkbar. Das wiederum beeinflusst den gesunden Flow in unserem Gang http://blog.tina-knape.de/2020/01/24/gangschule-was-ist-das/ und einen natürlichen Armpendel.
Ist Becken-Rücken-Bauch somit geblockter, rotiert die Brustwirbelsäule weiterlaufend nach oben nicht so frei und ungezwungen, was wiederum die Atmung beeinflussen kann und das Zwerchfell als großen wichtigen Atemmuskel in seiner vollen Entfaltung hemmt. Und so zieht sich die Kette bis zum Nacken als indirekt mit beeinträchtigtes Gebiet. Wenn die natürliche Lordose (das Hohlkreuz) der Lendenwirbelsäule nicht voll beweglich ist, versucht der Körper häufig, diese Einschränkung über eine Mehrbewegung der Lordose der Halswirbelsäule zu kompensieren. Und Kompensieren ist durchaus toll! http://blog.tina-knape.de/2019/05/11/ein-hoch-auf-die-kompensation/ Gleichwohl ergibt sich dadurch wiederum ein anderes Beschwerdegebiet, da der Körper das nur in einem begrenzten Zeitfenster schafft. Mit einer überlasteten HWS, deren Muskeln sich den ganzen Tag vielleicht recht wenig bewegen, und mit starr auf einen Monitor guckenden Augen, ist die Sauerstoffversorgung herabgesetzt und eine ausgewogene Durchblutung nicht gegeben. Das ist die Grundlage für einen verspannten Nacken und Kopfschmerzen am Abend nach der Arbeit. Und dabei sind noch keine weiterführenden Fakten betrachtet wie: Genug getrunken? Kaltes zum Mittagessen, während man über dem Smartphone hängt? Unangenehme Kollegin im Nacken sitzen? Beziehungsstress? Das Bild könnte man noch sehr viel größer aufziehen, doch das sprengt für den heutigen Beitrag den Rahmen.
Also egal, ob Sie eine Behandlung bekommen oder selbst Körperübungen machen: Denken Sie an Ihre gute Nachbarschaft! Spüren Sie mal in umliegende Bereiche oder auf die Gegenseite im Körper, wie sich das da so anfühlt. Wo braucht es noch ein bisschen mehr Abwechslung und Frische? Welche Muskelkette würde sich auch mal wieder über ein Rekeln und Strecken freuen?
Auch das ist der Grund, weswegen ich ein Verfechter des “echten Sports” mit komplexen Bewegungsabläufen bin. Egal, ob sie rudern, radfahren, schwimmen, turnen, Qi Gong machen oder wandern gehen – alles ist körperregionen-übergreifend und trainiert nicht nur den einen, isolierten Bereich. Ein Training im Fitnessstudio setzt den Fokus häufig auf Teilbereiche. Als Basis ist das gut und zum Teil nötig. Für ein funktionales Verknüpfen und ein gutes Abspeichern der trainierten Muskeln ist ein vielschichtiger Ablauf mit einem Kontext aber natürlicher und gesünder. Somit: Nicht nur stramme Bauchmuskeln trainieren, sondern auch für eine mobilere Brustwirbelsäule sorgen! Nicht nur auf den Stepper gehen, sondern mal durch einen verwunschenen Wald über Stock und Stein spazieren und die Muskulatur in einem Gesamtauftrag benutzen.
Und wenn Sie auf dem Nachhauseweg sind, holen Sie mal die Brötchen beim Bäcker nebenan – vielleicht mit einem Lächeln – auch das wirkt sich im besten Fall recht gesund weiterlaufend aus! 😉 Auf eine gute Nachbarschaft im Innen und Außen!