Honorieren ist ein Thema, was mich immer wieder begleitet. Wann honorieren wir uns selbst genug, wann andere? Was halten wir für selbstverständlich? Was wissen wir wirklich zu schätzen?
Es geht je nach Blick mit den kleinen Dingen im Alltag los. Ohne Verletzung des Daumens fehlt die Aufmerksamkeit, wie häufig wir zum Greifen, Anziehen, Sortieren und Co genau diesen Finger als Opposition zu den anderen brauchen. Erst mit einem Schmerz oder einer Bewegungseinschränkung wissen wir mehr zu schätzen, wie scheinbar selbstverständlich unser Körper sonst funktioniert und seinen Job macht.
Wenn zum Beispiel ein Patient mit frisch verletzter Achillessehne und für sechs Wochen in einem Spezialschuh weggepackten Fuß zur Behandlung kommt, auch noch zwei Gehstützen in den Händen, dann gibt es einerseits das anfängliche große Unglück, wie eingeschränkt und anders sich so ein Alltag anfühlt. Andererseits: Mit einer zeitlich begrenzten Einschränkung wie dieser gibt es auch neue Faktoren, die damit möglich sind. Vielleicht gilt es einerseits zu honorieren, dass sonst das meiste am Körper so einwandfrei funktioniert oder kompensiert? (siehe auch hier: http://blog.tina-knape.de/2019/05/11/ein-hoch-auf-die-kompensation/) Hammer, wie es “normalerweise” klappt und was der Körper an inneren Abläufen und komplexen Bewegungen ohne Murren für uns ausführt. Auch viele Bereiche des Körpers helfen einfach mit, wenn ein Aspekt zu Reparaturzwecken gerade stillgelegter ist.
Eine Verletzung wie diese bietet die Chance, zu sehen, was für Möglichkeiten sich daraus ergeben. Vielleicht hat man mehr Zeit zuhause, weil arbeiten gehen damit zumeist eher nicht geht. Man hätte die Möglichkeit, mal mehr in Ruhe irgendwo zu sitzen. Es bietet sich Optionen zu lesen oder zu plaudern, weil man nicht schnell und weit vorwärts kommt. Es bremst einen im vollgepackten Alltagstempo so aus, dass sich Gelegenheit zum langsamer Werden und über Dinge nachdenken ergeben, die man sich sonst eher nur wünscht. Es zeigt auf, wie es wirklich ist, mehr Zeit mit sich zu verbringen (und wie es tatsächlich dann so ist), als in einem durchstrukturierten Leben zu stecken. Es entschleunigt und lenkt die Wahrnehmung wieder mehr auf einen selbst- mit allem Für und Wider.
Existentielle Erschütterung wie schwere Erkrankungen, Unfälle, Tod von Freunden oder Verwandten rütteln einen wach. Dazu bietet “nur” eine Verletzung und die damit zeitlich eingeforderter Wundheilung einem vielleicht die “LightVariante”, bewusster und lebendiger zu werden. Es ist eine Chance, auch langsamer zu werden, nachzudenken, inne zu halten, sich selbst wieder mehr zu spüren, sich mit Kernfragen der Lebensgestaltung auseinanderzusetzen. Wo wohnt die Muße? Wer bin ich- ohne die Kraft in beiden Händen oder die Mobilität in beiden Beinen? Wer und wie viel bleibt übrig, wenn das Tun weniger möglich ist- und das Sein mehr in den Vordergrund rückt? Und es bietet Raum, zu honorieren, was (trotzdem) ist.
Honorieren heißt auch, zu sehen, was wir in den verschiedenen Rollen, die wir so innehaben, alles leisten und in Bewegung bringen oder in Bewegung halten. Dazu fallen mir tausend kleine Beispiele allein im Familienalltag ein: Mit zwei kleinen Kindern unterwegs gilt es die Stimmung, den Hunger, die Spielbedürfnisse, die Sicherheit und irgendwie alles zugleich, im Blick zu behalten. Schon allein das ist es wert, sich selbst (und all die anderen, die ähnliche Situationen erleben) wahrzunehmen und zu honorieren, was das alles zeitgleich an Aufmerksamkeit verlangt und wahrlich nicht selbstverständlich ist. Auch deswegen fühlt sich z.B. ein “Schwimmbadausflug” nicht mehr an, wie es früher als Teenager noch eine scheinbar andere Bedeutung hatte (da war es eher so: rumliegen, lesen, quatschen, mal schwimmen gehen, Eis essen, dösen, Leute gucken). Jetzt: Halleluja, rambazamba, huijuijui, aufgepasst! Okay: Eis essen geht davon immer noch recht unkompliziert 😉 .
Weitere Felder des Honorierens, die mir spontan einfallen:
Seinen Job mit Hingabe auszuführen, auch wenn man vielleicht die Nacht vorher schlecht geschlafen hat.
Honorieren, dass man sich bemüht, freundlich zu seinen Mitmenschen zu sein- und es manchmal einfach trotzdem nicht bei jeder Gelegenheit schafft.
Honorieren, wenn das Tagesalltagsgeschäft geschafft ist- auch wenn vielleicht nicht viel darüber hinaus möglich war. Es geht nicht immer Plus.
Honorieren, dass wir in der Welt der vielen Entscheidungen und Ablenkungen es versucht haben, mit so viel Achtsamkeit und Wissen, wie uns in dem Moment zur Verfügung stand, zu agieren, ohne dass es im Rückblick immer alles “richtig” ist.
Honorieren, dass wir in irgendeiner Form geschützt sind, in all den Situationen, wo wir nicht nur einen aktiven Einfluss darauf haben, sondern wo es ein Stück weit auch so ist, wie es ist- ungesteuert, zufällig, situativ.
Honorieren, dass wir Freiheit haben, Demokratie trotz verschiedener Meinungen, die Welt bereisen können, uns die Möglichkeit für Entscheidungen gegeben sind, existentielle Grundbedürfnisse abgedeckt sind…
Honorieren, dass das Leben ist. Mit allen Höhen und Tiefen, mit allem Schmerz und allen Freuden… und wir mittendrin.
Honorieren, dass wir nun so alt sind, wie wir jetzt alt sind und es bis hierher so geschafft haben, wie wir es geschafft haben.
Honorieren, dass wir denken, fühlen, wahrnehmen, entscheiden, bedauern, erfreuen, genießen, staunen, lesen, schreiben, dankbar sein können.
Wie häufig haben wir den Blick auf das, was noch nicht gut läuft, was noch fehlt, was optimiert werden muss, was Abläufe hindert- im Privaten wie im Job, im Körper wie im Geist. Es ist eine Kunst zu lernen, auch zu sehen, WAS schon alles da ist- und was schon alles läuft! Egal, ob in unseren Zellen oder in einem größeren Ganzen.
“Honoriert fühlen” können wir uns somit durchaus ein Stück weit selbst geben. Und darüber hinaus auch anderen. Es ist nicht loben und damit in irgendeiner Form manipulieren. Nein, es ist ein “Ich sehe Dich. Ich sehe, was Du gibst, was Du Dich zeigst, was Dich ausmacht, was es Dich kostet…” Es ist ein sich Öffnen für das, was da ist- und was sich zum Guten aussät für andere drumrum.
Honorieren macht ein Herz weit. Ein Lächeln breiter. Einen Kontakt schöner. Es lohnt sich, den Blick dafür zu schärfen- nach innen und nach außen. Mit und ohne Spezialschuh 😉
(Und noch ein Zusatz, weil mir das heute sicher nicht ohne Grund über den Weg läuft: https://www.youtube.com/watch?v=vzjuQoNM534. Sehr sehenswert dazu!! Just wow!)