Wo stehen wir nach über einem Jahr Covid 19 eigentlich?
Vor einem Jahr war ich das erste Mal im Leben gerade gekündigt worden. Ich hatte innerhalb von zwei Wochen keinen Job mehr als Therapeutin, sondern wurde zur Vollzeitmutter mit zwei Kindergartenkindern ohne Kindergarten, alle waren drinnen zu Hause und draußen und überhaupt war plötzlich alles anders. http://blog.tina-knape.de/2020/04/23/keine-pause-in-der-pause/ Neue Alltagssituationen entwickelten sich. Maske tragen wurde gerade erst eingeführt. Geschlossene Läden war ein bis dahin noch nie dagewesenes Phänomen.
Es war — zumindest für die aktuelle Generation und Regierung — de facto eine vollkommen neue und unbekannte Situation. Lagen deswegen für genau so ein pandemisches Ereignis keine vorbereiteten Pläne und Konzepte im Schubfach? (außer in Science Fiction Filmen, da ist das so und bekanntermaßen geht es dabei eher nicht gut aus)
Mittlerweile ist die Lage eine andere. Wir befinden uns nach 13 Monaten alle an einem anderen Standpunkt. Jeder hat innerhalb seiner Bubble auf individuelle Art und Weise reichlich Erfahrungswelten dazugewonnen. Es gibt vollkommen neue Statistiken und Zahlen, die den Medien zur Routine geworden sind. Es gibt Gewinner und viele Verlierer. Weiterhin geschlossene Läden. Seit Monaten kein Restaurant- und Hotelbetrieb in gewohnter Art. Viele Branchen weiter in Kurzarbeit. Vor einem Jahr haben selbst Visionäre kaum geahnt, wo wir im Frühling 2021 noch immer stehen werden. “Neue Normalität” war damals ein Schlagwort. Doch ist Normalität ein dafür passendes Wort? Mittlerweile ist es eher ein “anderes Relativieren”. Ich höre Sätze wie: “Der Branche XY geht es noch schlechter.” “Mit OP Maske im Zug zu fahren ist ja viel weniger anstrengend, als den ganzen Tag mit einer FFP2 Maske zu arbeiten.” “Wenigstens haben die Blumenläden wieder auf.” “Ach, in Deinem Bundesland ist die Kosmetik weiterhin verboten?”
Der Mensch kann sich gewöhnen, einerseits. Andererseits löst die Gesamtlage Spaltung und krasse Polaritäten im Freundes- oder Verwandtenkreis aus, wenn Sichtweisen zur aktuellen Politik, Impfungen oder die eigene Umsetzungen von Regeln zu weit auseinanderklaffen. Ich finde es besorgniserregend, dass gefühlt keine Mitte mehr breit vertreten scheint.
Im “neuen Alltag” entwickelt sich leider eine neue Form von Nicht-Planbarkeit. Wie bleiben / werden die Kita-Betreuungszeiten in nächster Zeit sein? Wird die Schule nach den Ferien wieder in Präsenz, Wechselunterricht oder Homeschooling stattfinden? Lohnt es sich, einen Urlaub zu planen und zu buchen oder wird das dieses Jahr vielleicht eh nichts? Wann kann ich mal wieder in einen Laden gehen, etwas anprobieren, anfassen, statt nur online Dinge zu bestellen? Wann sitzen wir endlich wieder (einigermaßen gemeinsam) in einem Straßencafe oder Biergarten und löffeln nicht mehr aus einer to-go- Plastikverpackung eine Suppe im Park? Wann finden wieder Besuche in Museum, bei Konzerten, im Kino und Co statt? Wer in der Kulturszene wird wie noch da sein? Wird es je irgendwann wieder Großveranstaltungen mit vielen Menschen geben, wie wir es noch aus unserer Erinnerung kennen? Wird die aktuelle Schulgeneration eher dümmer oder kreativ- flexibler auf das Leben vorbereitet sein?
Gerade auf der Heimfahrt vom Job (woher soll man auch sonst gerade kommen?!) sah ich ein Open-Air-Festival-Plakat für Juli dieses Jahres. Und ich ertappte mich dabei, jetzt, Anfang April 2021, darüber nachzudenken, ob denn wohl im Juli ein Konzert in Präsenz stattfinden wird? Vielleicht tatsächlich unter Bedingungen wie “frisch getestet” oder “nur geimpft”? Solche Gedankengänge hatte ich vor einem Jahr wahrlich nicht. Jetzt beobachte ich an mir, wie sich meine Denke ändert, allein, wenn ich ein Poster lese. Treffen mit vielen Menschen? Scheinbar unmöglich?! Die Möglichkeiten in Präsenz verschieben sich. Wird das wohl gehen? Werden wir “demnächst” Menschen außerhalb unseres Haushaltes legitim sehen können? Wann wird ein Hotel öffnen dürfen? Wird ein Fest stattfinden können? Manches war vorher “natürlich selbstverständlich” und stand auf diese Art nie in Frage. Ist das jetzt die neue Welt der Unsicherheiten, die bleibt? Wir haben diese Form der Selbstverständlichkeiten nicht zu schätzen gewusst. Das habe ich mir im Frühling 2020 nicht ausmalen können, dass ich einen Frühling später ohne Planbarkeit und klare Aussichten, auf die man bauen kann, weiterhin unterwegs sein werde. Durchhalten allein reicht nicht mehr aus. Diese Kraft scheint aufgebraucht. Dafür ist das Zeitfenster von 13 Monaten zu lang. Wie muss sich diese Zeit aus der Sicht eines 5-Jährigen oder eines 14-Jährigen erst anfühlen, wenn sein ganzes Leben noch nicht so viele Lenze zählt?
Schräg ist auch, dass selbst die Idee, im Urlaub in ferne Länder zu reisen, schon runtergeschraubt ist auf ein Minimum. Allein Reisen in Deutschland (außer man ist mutig und Verwandte stellen einem ein Bett zur Verfügung) ist ja gerade nicht möglich. Kein anderer Ort, kein Ausgleich zum Auftanken, kaum Input, um neue Ideen zu entwickeln und Kräfte aufzutanken für das weitere “Liefern” des Alltags, der ja weitergeht. Unsere neue, instabile Erfahrungswelt beinhaltet fehlende Aussichten und ist ohne klare Perspektive, ab wann das denn wieder anders ist. Wenn alle geimpft sind? Wenn sich keiner mehr testen lässt? Wenn die Bundestagswahlen entschieden sind?
Ich bin sehr froh, dass mein Beruf aus Kontakt, Teilhabe und persönlichen Geschichten der Menschen besteht. Er bietet mir andere Perspektiven und im Moment auch mehr denn je Einblick in “Betroffenheiten”. Bleibende Kollateralschäden http://blog.tina-knape.de/2020/10/29/wo-wohnt-die-wuerde-in-coronazeiten-die-gewichtung-von-kollateralschaeden/ werden wir wohl mit noch mehr Zeitverzögerung erst rückblickend resümieren können. Das hätte ich mir vor einem Jahr auch noch anders gedacht. Nichtsdestotrotz versuche ich, mich zwischendurch rauszuzoomen und eine Vogelperspektive zu bekommen. Das gelingt mal besser, mal schlechter.
Was es mich jetzt schon gelehrt hat: Therapeut zu werden, ist eine echte Berufsberatung mit Perspektive. Unsere Branche wird weiterhin benötigt werden, vielleicht mehr denn je. Präsenz, Ansprache, Körperkontakt sind auch während all der Wellen und Spitzen, Zahlen und Lockdowns trotzdem mein Tagesgeschäft. Und darin liegt nicht nur Lebensgefahr, sondern auch Linderung und Heilung.