Mehr und mehr Kreativität macht sich in meiner Arbeit breit. Vielleicht werden die Patient/innen vielseitiger und fächerübergreifend talentierter und deswegen braucht es auch einen anderen Input? Vielleicht ist es nach 24 Jahren Berufserfahrung andererseits ein natürlicher Prozess, dass zum klassischen Pfad der Arbeit auf Grund des Erfahrungsschatzes auch Therapeuten mutiger werden und andere Therapie-Grundsteine legen? Vielleicht gibt es ein anderes Erlauben, links und rechts des Weges ein bisschen mehr ab zu biegen, zu priorisieren und zu experimentieren? https://blog.tina-knape.de/2024/11/09/erlaubnis-geben/ Diese Begegnung war zumindest ein Anlass, der dazu einlud.
Kurzbericht: Ersttermin, Patientin, 16 Jahre, bilingual. Diagnose: Das 2. Mal in 2 Jahren eine Fraktur in der Lendenwirbelsäule (LWS) (auf Grund eines Knochenödems).
So junge, schlaue Patientinnen möchte ich mit diesem Auslöser “Fehlbelastung im Leistungssport” eigentlich nicht in der Praxis als PatientInnen haben. Diese Art von Verletzung wäre möglich, zu verhindern. Die Diagnose dahinter: Volle Überlastung. Knochenödeme entstehen bei dauerhafter, repetitiver Überlastung von Strukturen, vor allem zu finden in der Kindheit/ Jugend durch Leistungssport. Kein Unfall, keine spontanen mechanischen Ursachen — sondern dauerhafte Überlastung von Strukturen mitten im Wachstum und während der Hormonumstellung in der Pubertät. Volle Fehldosierung von Belastungen. Uh. Das hat mich echt geschockt.
Zwei Mal hat ihr innerer Antreiber (oder ihre Antreiberin?!) gewonnen und sie ihren Schmerz voll ignorieren lassen. Ein starker innerer Anteil hat sie dazu gebracht, es ihren Eltern gegenüber ebenso zu verschweigen. Sie hat sicher unter Höllenschmerzen den Wettkampf zu Ende geführt. Sie hat auf Grund des Druckes, Verantwortung im Teamsport zu haben und wichtiger Bestandteil davon zu sein, ihre eigenen Leistungen “abgeliefert”, fernab ihrer aktuellen körperlichen Verfassung. Sie hat den Einsatz im Sport höher bewertet, als auf ihren Körper und ihren Schmerz zu hören. So sehr, das jeweils am Ende eines Wettkampfjahres ihr gesunder, (überlasteter), junger Wirbel brach. Zwei Mal in zwei Jahren.
Ein Wirbel ist natürlicherweise so stabil und dick gebaut, dass er gerade eben nicht dazu neigt, zu brechen. Das passiert höchstens bei alten Leuten mit Osteoporose, aber niemals “einfach so”. Wenn das “spontan” passiert, dann ist da meist ein fetter mechanischer Impact wie bei dem Aufprall in Folge eines Autounfall oder ähnlichem nötig. In ihrem Fall ist die Dauerüberlastung und das Bilden eines Knochenödem voraus gegangen.
Wir Therapeuten arbeiten bei der Befundung mit der VAS-Skala. Das ist eine valide, standardisierte Schmerzskala von 0-10, wobei 0 kein Schmerz und 10 Maximalschmerz darstellt. Der Patient sortiert sein Schmerzlevel auf seiner persönlichen Skala ein. Eine 8/10 bei diesem Mädchen ist mit Sicherheit anders einzustufen, als eine 8/10 von jemanden, der in dem Alter im besten Fall großen Schmerz noch nicht so kennengelernt hat. Bei ihr werde ich auch bei einer 1/10 hellhörig. Ihre Schmerztoleranz oder -Ignoranz muss immens sein.
Meine erste Hausaufgabe für diese junge Frau war:
Lerne Deinen inneren Antreiber kennen! Ist es ein Er oder Sie oder Es? “Es” hat Dich zwei Mal so viele persönliche und schmerzhafte Grenzen ignorieren lassen und zum Weitermachen angetrieben, “weil” — diverse Gründe. (Beispielsweise: Es nur noch 2 Wettkämpfe sind… weil Du das Team nicht im Stich lassen kannst…) — und ich fürchte als Therapeutin, “es” wird es wieder tun,Dich überfordern und ein “wichtigeres” Weil finden lassen. Es braucht ein Gewahrsein für diese Instanz, sonst kann jede Übung auch von Therapeutenseite ebenso fehldosiert angewendet werden.
Also: Lerne “es” kennen. Wie sieht “es” aus? Ist es groß oder klein, dick oder dünn? Hat es eine Gestalt? Hat es eine Stimme oder Stimmung? Ist es hell oder dunkel, laut oder leise? Flüstert es? Schreit es? Es hat so viel Einfluss in Deinem Handeln und wird Dich in manchen Bereichen vielleicht zum Guten/ Gewünschten pushen (als “Engagement” für Schulnoten ist es in dem Fall ja eher positiv belegt)… doch zwei Wirbel brechen war wahrlich nichts Gutes. Das war vor allem destruktiv. Somit werde vertraut mit dem Antreiber, um den Pusher besser zu erkennen: Wann passt es, “andere Anteile in sich zurück zu nehmen”? Und wann ist es vollkommen fehl am Platz?! https://blog.tina-knape.de/2022/08/04/das-glas-abstellen-koennen
Wie würdest Du “es” zeichnen? Wie spricht es? Wo sitzt es? Setz es kreativ um und werde ihm vielschichtiger gewahr, wann und wie es Dein Leben beeinflusst. https://blog.tina-knape.de/2022/08/11/der-innere-antreiber/
Ich bin sehr gespannt, wie meine junge Patientin diese Hausaufgabe umsetzen kann.
Das Ziel ist, Wahrnehmung für die Dosierung zu schaffen. Das ist ein wichtiger Zugang, um besser auf sich acht zu geben. Vor allem (schon) in diesem Alter. Und vor allem, um Trainingsbelastung selbstbestimmter regulieren zu können und die Überlastung aktiv mitzubekommen. Auf sich acht geben und in den Körper hören, sind essenziell. https://blog.tina-knape.de/2019/11/01/was-erzaehlt-der-koerper-da-gerade-botschaften-lesen-lernen/
Wie gut dosieren Sie Ihre Belastungen? Wer quatscht bei Ihnen bei Belastungen rein und spornt an oder überfordert? Zeichnen Sie “den” einmal beim nächsten (langweiligen ;)) Meeting.
Obacht!