Wieder hatte sie die ganze Nacht gemahlen und geknirscht. Ihr Kiefer tat weh. Es schmerzte nicht nur im Gelenk, sondern gefühlt war die gesamte Gesichtsmuskulatur ein einziger fester Brocken. Der Schmerz zog ihr bis über die Ohren. Der Nacken war steif und unbeweglich. Die gesamte Kopfhaut war sensibel bis in die Haarspitzen.
Ihr war schon lange klar: Ich muss etwas ändern. So konnte es mit all dem Stress, der Zurückhaltung und der Spannung nicht weitergehen. Wie destruktiv und selbstzerstörerisch ist das eigentlich, tagsüber zu still zu bleiben und sich die Nächte mit so viel Spannung im Kiefer um die Ohren zu schlagen?
Sie rieb sich mit ihren flachen Händen ihr angespanntes Gesicht. Noch war es still im Haus, der Rest der Familie schlief noch.
“Auf’s Land ziehen” war die Idee als Lösungsweg vor Jahren gewesen, um der Hektik und all den Eindrücken der Stadt zu entfliehen und mehr Ruhe zu finden. Doch der entlastende Effekt blieb aus. Nun hatte sie weitere Wege zu absolvieren, um die Kinder zu all ihren Aktivitäten und Hobbies zu fahren und ihre Besorgungen für Haus und Hof zu machen. Und all das Unausgesprochene zwischen ihrem Mann und ihr war in der Stille des Dorfes nur noch lauter geworden – und schmerzhafter, wie sie gerade wieder deutlich spürte.
Die Sonne ging hinter den Weinbergen auf. Sie schlüpfte in ihre Gartenjacke, zog sich ihre dicken Socken an, bevor sie in die Gummistiefel stieg und nahm die Axt, die an der Hauswand lehnte.
Heute war der Tag. Heute begann der Wandel, den sie sich schon vor Jahren wünschte.
Sie kreiste ihre Schultern unter dem Gewicht der Axt. Sie streckte sich durch- und ging schnurstracks auf die Gartenhütte zu. Da lag er, der umgestürzte Baum vom letzten Herbst. Mit all ihrer Kraft wuchtete sich die Kiefer auf den Hackklotz und schlug zu. Sie schlug und schrie, sie schlug und schrie- auf die Kiefer – und ihr Kiefer löste sich mit jedem Schlag ein Stück weit mehr.
11.3.23 TK