Wir befinden uns über die letzten Monate in einem Regel- und Meinungsdschungel zu Themen wie Abstand, Masken, Art der Masken, Gefahren, Schutzmaßnahmen, Restaurant-Innen- und Außenbereiche, Bundesländergrenzen, unlogische Umsetzungen von Hygienekonzepten (desinfizierte Stifte in der Lobby des Hotels, Tabletts am Frühstücksbuffett hingegen für Jedermann), Impfungen- und die dazugehörige Debatten über verschiedenen Impfstoffe, Attitüden, Interpretationen, Gesellschaftsverantwortung und Schuldverteilungen…
Es ist so vielschichtig. Und es herrscht viel Druck – vermutlich in jedem Einzelnen – sich eine Meinung zu bilden, in etwas, was für alle neu ist und unsere stabile Alltäglichkeit unterbricht und wo gleichzeitig Grundwerte scheinbar gegeneinander aufgewogen werden, während ganz nebenbei Angst und Verunsicherung herrschen.
Seit Monaten haben meine Patienten einen erhöhten Gesprächsbedarf. Dabei ist die Positionierung zum Thema Impfung PRO und CONTRA ein wesentliches Thema, ohne das kaum eine Behandlung verstreicht. Ich verbringe seit Monaten keinen einzelnen Tag mehr ohne das Wort “Corona” an der Behandlungsbank. Es reibt, es wühlt auf, es verschiebt, es verbindet, es entfremdet, es überlagert. Ich finde es nicht einfach, ein persönliches Thema wie eine Art “Wetter” auf small talk Niveau abzuhandeln. http://blog.tina-knape.de/2021/01/12/impfung-und-raum-lassen-fuer-eigene-entscheidungen/ Jeden bewegt es. Jeder hat oder bildet sich eine Sichtweise dazu. Und man trifft selten auf Menschen, die die Fähigkeit besitzen, den anderen mit einer anderen Meinung zu akzeptieren. Es verlangt mehr Weite, Größe und Aufgeschlossenheit, als in der hitzigen Debatte und dem eigenen Für und Wider gerade gesellschaftlich zur Verfügung steht.
Ich sehe Patienten, die sich aus medizinischen Gründen und mit einer Art Selbstverständnis zu ihrem Schutz für eine Impfung entscheiden. Ich treffe auf Patienten, die von ihrem Arbeitgeber so viel Druck bekommen (mit oder ohne Firmen-Impf-Event), ihre persönliche Meinung und den eigenen körperlichen Bezug dazu hintanzustellen, um dem Strom der Mehrheit eines Jas zu folgen, damit sie Teil des Teams bleiben können. Mir begegnen Unternehmungslustige, die sich Ungezwungenheit und “Freiheiten” wünschen, egal, ob für Kino, Essen gehen im Innenbereich oder den nächsten Kurztrip übers Wochenende — und die dafür einen gelben Impfausweis als Eintrittskarte nutzen. Es gibt Kolleginnen, die nur unter den Bedingungen einer Impfung ihre Verwandten besuchen dürfen oder anderweitig das Privileg einer frei auszuwählenden Maske nutzen, statt weiter zu FFP2 verpflichtet zu sein. Ich treffe Freundinnen, die sich allein fühlen im Strom der starken, allgemeinen Meinung, was für jeden selbst und für die Gesellschaft nun wirklich das einzig richtige ist– egal, was ihre Bedenken, ihr Bauchgefühl, ihre Literaturquellen sagen (und nicht alles ist gleich Querdenkertum). Das Gewissen und ein Gefühl von “wenn jemand anderes erkrankt oder stirbt, bist Du daran Schuld” wird damit bedient und setzt unter Druck. Andere Bundesländer, andere Regeln. Als ich von Hessen nach Thüringen gefahren bin, dachte ich, ich muss ein fremdes Land bereist oder eine Zeitreise unternommen haben, wenn Menschen eine so unterschiedliche Art und Sicht der Umsetzung des aktuellen Regelwerks haben.
Mein Bild zum Verdeutlichen des Grundthemas ist das des Straßenverkehrs. Wir haben und wir brauchen Regeln und Vorsichtsmaßnahmen, damit wir uns unbeschadet fortbewegen können. Wir haben verschieden verletzbare Verkehrsteilnehmer, Radfahrer, Fußgänger, Autofahrer, SUVs, Traktoren. Wie es vielleicht möglich ist, das Regelwerk und die Selbstbestimmtheit darin als Gleichnis zu finden, lesen Sie in einem eigenen Blogpost http://blog.tina-knape.de/2021/07/30/gefahren-des-strassenverkehrs-als-gleichnis/.
Unterscheidung und Spaltung sind heikle Gefährten, die sich gerade in den Dschungel der Corona- und Impfregeln einschleichen und dort etablieren. Wohin führt es, wenn nicht jeder Patient gleich medizinisch versorgt wird, weil er keinen vollständigen Impfschutz hat (Beachte: ohne, dass es bisher eine Impfpflicht gibt bzw. die unterschiedlichen Beweggründe einer Nicht-in-Anspruchnahme berücksichtigt werden)? Was passiert, wenn wir nicht jedem/r Mitarbeiter*in eines Unternehmens die gleichen Rechte auf Weiterbildung oder Weiterentwicklung zugestehen? Wieviel Schutz der Persönlichkeitsrechte ist gewahrt, wenn sich überall die Meinung breit macht, jeder dürfe nach seinem Impfstatus gefragt werden?
Ich befürchte eine starke Spaltung der Gesellschaft. Zu diesem Thema der krassen Unterscheidung haben wir leider keine schöne Geschichte. Obacht. Mensch sein heißt vielschichtig sein und es braucht auch den Raum, Kontroversen auszuhalten. Sowohl als auch.
Eben habe ich mit ungläubigem Staunen gefolgt von Bauchgrimmen im Heute Journal verfolgt, wie sich die Gesundheitsminister der Länder über die Empfehlung der StIKo hinweg- und diese unter Druck setzen.
Verunsicherte Eltern, Jugendliche und Kinder sind meiner Ansicht nach die Folge. Spaltung auch kleinerer gesellschaftlicher Einheiten inklusive.
Das Gespräch mit dem Vorsitzenden der StIKo war erhellend. Beleuchtete für mich klar auch andere Aspekte des Impfens.
Danke dass du dich des Themas angenommen hast.
Hallo Tina, du sprichst mir aus der Seele. Ich finde die Irrungen und Wirrungen rund um das Thema Corona nicht mehr nachvollziehbar und da es für uns alle eine Situation ist, die wir vorher nicht kannten, darf Unsicherheit und Fehler machen auch sein. Dazu kommt das Recht der Meinungsfreiheit und diese Meinungen müssen wir aushalten. Was ich nicht gut aushalten kann sind die Beschlüsse von Ministern, die sich angeblich geeinigt haben und in ihren Ländern dann machen, was sie wollen. Und ich halte nicht gut aus, dass aus den Fehlern nichts gelernt wird. Ich bin z.B. gespannt wie es nach den Ferien in den Schulen weitergeht. Ich hätte auch gerne Regeln, die nachvollziehbar sind und an die jeder Mensch sich halten kann.
Ich bin gespannt!
Liebe Grüße
Britta
Fein.