Wir haben Herbst 2020 und es geht in die nächste Runde steigender Corona- Infektionszahlen. Das Feld der Wissenschaftler, Schulmediziner und auch der verquerdenkenden Meinungsäußerer wird breiter und größer. Das Regelwerk der Benimm- und Nicht-Kontakt- Regeln wird immer unübersichtlicher und die Bundeslandgrenzen lernt man auch nochmal auf eine ganz andere Art kennen, wenn man versucht, sich annähernd regelkonform an verschiedenen Standorten zu verhalten.
Genug Leute, die darüber schreiben, gibt es auch — mal lauter, mal leiser, mal nur in einschlägigen Interessengruppen. Was mich bewegt, sind persönliche Geschichten und echte Schicksale, die meine Patienten und mir nahe stehende Menschen erleben. Diese passieren die ganze Zeit einfach weiter, Corona hin oder her, und sind dadurch aber eher erschwert. Die verschiedensten Aspekte von Maskenpflicht und Testverfahren werden kontrovers beleuchtet. Komplexe Analysen werden aufgestellt. Doch was ist in diesem Regel-Dschungel mit der Würde? Was ist mit dem respektvollen Umgang vor dem Leben und dem Sterben? Was ist mit der Art und Weise, wie wir im schönsten Fall mit Respekt und auch würdevoll zur Welt kommen dürfen — und uns auch mit Achtung und Menschlichkeit aus dem Leben verabschieden? In all diesen Monaten unter den besonderen weltweiten Rahmenbedingungen, dass ein (noch) unkalkulierbarer Virus und die daraus gezogenen Konsequenzen den “Normalzustand” durchschüttelt, geht das Leben weiter mit allem, was sich sonst ebenso zuträgt. Es werden Kinder geboren. Es werden Menschen schwer krank, verunfallen. Angehörige versterben. Häuser brennen — wirklich wesentlichen Lebensereignissen finden statt, auch mitten im Corona-Chaos. Und im Regel-Dschungel wirkt es, als würde das Mitgefühl jeden Tag ein bisschen kleiner werden und keine Ausnahmeregeln möglich sein. Doch ich finde, es ist wahrlich nötig, den Menschen- und Herzensverstand weiter zu berücksichtigen! Über Generationen haben wir Kultur und Ethik etabliert, um mit einer Haltung von menschlichen Werten und einem ausgewogeneren Miteinander klar zu kommen. Und jetzt sorgt ein Regelwerk ohne Ausnahmen für “Bestimmungen”, die je nach Lebenslage in meinen Augen am Menschlichen vorbei gehen — und die durchaus auch gerade in diesen besonderen Zeiten weiter Beachtung und Daseinsberechtigung haben.
Ein paar kleine erlebte Geschichtenbeispiele: Alte, demente Menschen sind nicht in der Lage zu verstehen, warum kein Besuch mehr kommen soll — und wenn er kommt, warum er nur mit Abstand stehen bleibt und redet, statt eine tröstende und kontaktende Hand auf die Schulter zu legen. Meine Patientin im Rollstuhl fühlt sich zuhause isoliert und ihr größter Sonnenschein in ihrem monotonen Alltag war normalerweise der Besuch ihrer 8-jährigen Enkelin. Ihr Sohn sorgt sich, dass dieser Kontakt für sie nun eher “gefährlich” sein könnte, damit seine Tochter “nicht womöglich etwas einschleppt” und er sich dann für immer Vorwürfe macht. Meine ältere Patientin versteht das irgendwie, im Kopf, doch ihr Herz blutet, weil ihr in ihrem Leben eh nicht mehr viel Abwechslung und Begegnung geblieben ist. Das verschobene Highlight sind nun die Ausflüge zur Therapie, weil sie sonst nicht mehr vor die Tür kommt. Sie erzählt mir von ihrer großen Einsamkeit und dem Vermissen — und weiß nicht, ob ihr noch so lange Zeit bleibt, bis es “wieder erlaubt ist”, ihre Liebsten regelmäßig zu sehen.
So bekommen viel zu früh entbundenen Zwillingen im Krankenhaus entweder die Mama ODER den Papa als Besuch an ihren Brutkasten, um sie zu sehen und vielleicht sogar ein bisschen zu streicheln, auch wenn Mama und Papa im gleichen Haushalt leben. Beide Eltern zugleich sind gerade nicht erlaubt.
So liegt ein Opa im Sterben und darf keinen Besuch mehr von seinen Verwandten bekommen, um sich zu verabschieden, weil, ja, warum eigentlich? Weil das Regelwerk es sagt. So stirbt er allein oder nur im Beisein des Pflegepersonal, während die Verwandtschaft “draußen” verzweifelt und trauert und keinen gelebten Abschluss ihrerseits vollziehen konnte.
So sitzt eine erwachsene, pflegebedürftige, behinderte Schwester in einem Heim und bekommt keinen Besuch. Eine ihrer Schwestern kann schon den ganzen Sommer nicht anreisen, weil sie im Ausland lebt und wenn die Mutter von ihrem 4 Autostunden entfernten Wohnort kommt, dürfen sie sich nur für 30 min in einem Park treffen und sich nicht anfassen. Das versteht kein Herz, weder das der Tochter, noch der Mutter.
So dürfen in manchen Krankenhäusern Väter bei der Geburt nicht dabei sein; Menschen schwer verletzt nicht von ihren Angehörigen besucht werden oder nur einer aus der Familie eingetragenerweise im Krankenhaus besuchen. Ein Schädel-Hirn-Trauma-Patient kann seit März nicht mehr zu seiner Tagespflege gehen, was jegliche Routine und Rituale der letzten Jahre durchbricht und den bisherigen Therapieerfolg aufbröseln lässt. Ein junger, gehandicapter Mann darf nicht mehr in die Behindertenwerkstatt arbeiten gehen, was ihm jegliche Struktur und Halt nimmt. Nun ist er nach einem verzweifelten Suizidversuch stationär in der Psychiatrie. Eine aufgrund ihrer Einschränkung sich sowieso isoliert fühlende hörgeschädigte Patientin, die bisher wenigstens über Lippenlesen recht gut durch den Alltag kam, stößt nun mit der flächendeckenden Verhüllung von Mund und Nase auf vollkommen neue Barrieren der Kommunikation. Es gibt Verunfallte auf der Autobahn, deren körperliche 1. Hilfe erst mit dem Eintreffen der Sanitäter begann, weil die Ersthelfer des Unfalls vor Sorge einer Ansteckung keinen Körperkontakt zu Unbekannten aufbauen wollten, sondern in ihrem Auto gewartet haben, bis der Krankenwagen eintraf.
Jetzt stellen Sie sich das bitte mal andersrum vor! Sie wären auf Hilfe angewiesen und keiner traut sich?!
So Geschichten erreichen mich, an der Behandlungsbank, via Anruf, auf dem Spielplatz. Und das ist nur ein Auszug.
Um “gesund zu sein” brauchen wir gelebte Würde und menschliche Wärme, vor allem bei wichtigen Übergängen. Lebenswandelnde Übergänge wie: wie wir hier auf dieser Welt ankommen; wie viel Halt wir finden, wenn unser Leben mit tragischen Ereignissen in Form von Unfällen oder (anderen) Erkrankungen (losgelöst von Corona) durchgeschüttelt wird. Mit welcher Haltung wir Menschen begleiten und verabschieden, die von dieser Erde gehen und sterben, ist so wesentlich. Meilensteine.
Genau da geht es um ein “seelisches Gesund sein” (und bleiben können), wie wir diese speziellen Ereignisse verarbeiten und integrieren. Dabei sind wir auf menschliche Werte angewiesen! Da gelten keine echten “Verhaltensregeln” mehr. In diesen Situationen spricht das Herz im besten Fall deutlicher und lauter, um so emotionale Ereignisse irgendwie langfristig zu verkraften. Es geht darum, dafür einen Platz zu finden, neuartig und nachhaltig zu priorisieren.
All das ist im Moment in Zeitungsartikeln als “Kollateralschäden” zusammengefasst. Mir fehlt sehr der Blick darauf, dass zum Faktor “Gesundheit” auch genau diese emotionalen Großereignisse Beachtung bekommen und Sonderregeln brauchen, um keine langfristigen Schäden in vielen Seelen anzurichten.
Kollateralschäden als Wort beinhaltet leider so einen Beigeschmack von “nehmen wir in Kauf”. Gesellschaftlich betrachtet scheint es keine andere Lösungsidee als Reglements zu geben. Aber ganz individuell erlebt, was dann? Wie ist das, wenn es die eigene Oma ist, die wirklich einsam auf ihrem Krankenbett stirbt, weil keiner ihrer Verwandten zu ihr darf, um ihr ein letztes Mal die Hand zu halten? Das ergibt keinen Sinn und dieses Unterlassen der Begegnung schützt wiederum nicht die Gemeinschaft.
Bei all den Debatten und der zu berücksichtigenden Komplexität fühle ich sehr mit, was an Einzelschicksalen durch diese spezielle und überfordernde Corona-Zeit trotzdem geschieht und an Spätfolgen mit sich bringt. Das werden die tragischen Geschichten, die Leute noch Jahre später erzählen werden: “Damals, 2020…” und es werden traurige, lebenseinschneidende Geschichten sein, die nicht nur allein mit einem Virus zu tun haben.
Ich frage mich: Können wir die Würde und die Gefahr der Kollateralschäden zu den mathematischen Infektionszahlen bitte mit einberechnen und berücksichtigen — im Kleinen und im Großen?! Können wir für existentielle Erschütterungen im Alltags-Regelkatalog eine Sonderrolle finden?
Der Mensch braucht Kontakt, auch und gerade, um zu heilen. Und so brauchen wir weiter ein fühliges Herz, um nicht nur Regeln zu befolgen, sondern auch einschneidende Ereignisse als solche anzuerkennen und auch diesem Erleben Raum zu geben.
So wünsche ich jeden von uns Mut, bei den wirklich wesentlichen, existentiellen und unwiederbringlichen Momenten, wo Menschenseelen beteiligt sind, uns klar auszudrücken, uns unverblümt mitzuteilen und auf mitfühlende Herzen zu treffen, die weiterhelfen. So lassen sich von Mensch zu Mensch vielleicht am ehesten Wege und Lösungen finden, Regeln situationsadäquat auszulegen und für weniger seelische Narben zu sorgen.
Danke für die bewegenden Worte, der wirklich wichtigen Dinge im Leben.
Die uns, wie bisher, halt und Wohlbefinden geben.
Ich lebe seit März in einem ständigen Wechsel.
Da mein Heimatort und meiner Arbeitsstätte ca. 500km auseinanderliegen.
Ich habe eine Genehmigung das ich öfters diese Strecke fahren darf.
Darf aber weder hier noch dort Menschen treffen, oder zu Hause meine Familie besuchen.
Nur aus der Ferne, bzw. vor dem Balkon stehend.
Wie in deinen Zeilen beschrieben, bricht das Herz, um den Zustand zu ertragen und wird hart das es weniger schmerzt.
Danke dir und ich werde deinen link mit Freuden weiter verbreiten.