Zwei mir nahe stehende Freunde sind in den letzten Wochen jeweils mit dem Tod eines Angehörigen konfrontiert worden. Die letzten Schritte waren mit Blick auf die jeweiligen Erkrankungen für alle Beteiligten eine große Herausforderung. Aber der Tod hat nicht nur etwas endgültiges, was den gemeinsamen Weg im hiesigen Leben betrifft. Er ist auch wie ein Rückfahrticket, welches wir alle in unserer Tasche tragen – von dem wir jedoch nicht wissen, wann und wie es schließlich zum Einsatz kommen wird.
Zu Hamburger Zeiten habe ich für ein Jahr ein paar Stunden in der Woche in einem Hospiz gearbeitet. Auch Physiotherapie wird in den letzten Monaten, Wochen, manchmal Tagen verordnet. Es war eine spezielle Situation, mit jedem Hospizbesuch auf immer wieder neue Gegebenheiten zu treffen. Dieser Ort ist wahrlich der Raum für ein bewusstes Hier und Jetzt. Einige Bewohner habe ich nur einmal getroffen, andere konnte ich über Wochen hinweg begleiten. Manchmal war es für die Angehörigen eine wichtige Sache, während die Patientinnen und Patienten selbst schon nicht mehr in Kontakt treten konnten. Manchmal war es eine erfrischende Abwechslung, dass für eine Lymphdrainage oder einen Spaziergang auf die Dachterrasse jemand Externes als Physio vorbeikam. Für mich war es eine Zeit reich an Tiefe, Begegnung und Geschichten. Ich erinnere mich beispielsweise an eine ältere, zarte, feine Dame, die stetig immer weniger wurde, aber irgendwie nicht sterben konnte. Sie lief anfangs noch selbstständig über den Flur, hatte ein wunderbares Wesen und konnte trotzdem irgendwie noch nicht aus ihrem Leben gehen. Wir hatten ein ganz besonderes Gespräch – auch sie nahm wahr, dass sie innerlich noch nicht loslassen konnte, obwohl sie sonst klar und aufgeräumt war und sich bereit fühlte zu gehen. Ich fragte sie: Gibt es noch etwas zu klären? Sie erzählte mir mit ihrer sanften Flüsterstimme, dass sie seit 30 Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem einzigen Sohn habe. Dass sie es so konkret aussprechen konnte, hat uns beide sehr berührt. In der Folgewoche erfuhr ich im Schwesternzimmer, dass sie inzwischen verstorben sei. Vorher hatte sie dann doch ihren Sohn kontaktiert, er hatte sie am Wochenende besucht und danach war sie recht sanft eingeschlafen.
Menschen gehen die letzten Schritte sehr unterschiedlich. Bei manchen Gemütern taucht noch ein großes Schimpfen und wütend werden auf. Ich erinnere mich an die Geschichte einer heruntergerissenen Nachttischlampe. Der Patient war an sich ein reflektierter, freundlicher Mann und konnte es am nächsten Morgen selbst nicht fassen, was ihn in der Nacht so hatte austicken lassen. Wieder eine andere Patientin hat den ganzen Tag gehäkelt und ferngesehen und mir gesagt, dass sie bald ihre Koffer packt und in den Urlaub fliegt.
Auch das Sterben zeigt sich in einer ganz persönlichen, eigenen Biografie. Ich habe zu jener Zeit eine Parabel gehört, die mir bei meinem Umgang mit dem Tod einzuordnen hilft, was in diesem finalen Übergang noch einmal zu Tage tritt. Sie hat mir aufgezeigt, dass es vermutlich diese drei Wege gibt (und sicher noch einige mehr):
Die Geschichte handelt von einer älteren Frau, die einer jüngeren hilft zu verstehen, wie Bewussteinszustände funktionieren. Dazu nimmt die Oma drei Töpfe, füllt Wasser hinein und stellt sie auf den Herd, um das Wasser zu kochen. In den einen Topf gibt sie Möhren, in den zweiten Eier und in den dritten gemahlene Kaffeebohnen. Nach 20 min zeigt sie das Ergebnis der jüngeren Frau. Sie fragt, was sie sieht. Es sind immer noch Möhren, Eier und Kaffee. Doch alle haben ihre Konsistenz verändert. Aus hart ist weich geworden, aus weich wurde hart und der Kaffee ist mit dem Wasser in Verbindung gegangen und hat sich transformiert.
So fühlte es sich für mich in jedem Zimmer anders an. So wie jeder der Patienten einen anderen Abschied nahm: noch einmal einen Kampf kämpfte, ganz weich wurde oder sich förmlich von Stunde zu Stunde im Raum auflöste. Es hat mir geholfen zu sehen, dass jeder auch da seinen Weg geht – und dass es nicht vorab ersichtlich ist, wer bei dieser existentiellen Lebensphase welche Variante durchlaufen wird.
Ich erinnere mich an eine besondere Frau, die zum Ende hin keine gewürzten Speisen mehr essen konnte, weil alles viel zu intensiv und zu “scharf” für sie war. Sie bekam nur die geringste Dosis Schmerzmittel und selbst das hat sie jedes Mal fast umgehauen. In den letzten Behandlungen konnte ich kaum noch eine Hand sanft irgendwo auf ihren Körper legen, weil auch das schon zu viel Input war. So kniete ich neben ihrem Bett und erzählte ihr die Parabel von der alten Dame und ihren drei Töpfen – und dass ich das aus-dem-Leben-gehen bei meiner Arbeit in diesem Haus so wahrnehme. Sie lächelte mich an und sagte: Ich bin der Kaffee.
Welchen Weg auch jeder geht, es ist zumeist ein schwerer. Nicht zuletzt, weil wir in unserem normalen Alltag so wenig mit dem Thema Sterben und Tod in Verbindung stehen (wollen). Zum Zyklus “Leben” gehört wie die Geburt auch der Tod. Und doch fällt uns Begrüßen häufig leichter als das Abschiednehmen. So viel gemeinsam Erlebtes, so viel, das uns verbindet und sich mit einem letzten Atemzug für immer verändern wird.
Während eine Freundin das Sterben ihres Vaters begleitete, entwickelte sie so eine Klarheit und unbändige Lust auf Lebendigkeit, dass sie keine halbgaren, unentschlossenen Momente mehr verstreichen lassen wollte. Stattdessen konnte sie durch die Konfrontation mit dem Tod das Hier und Jetzt im Ganzen sehen, annehmen und fühlen. Existentielle Themen tragen stets ein großes Potential von Fülle und sie verkörpert das für mich gerade in allem, was sie fähig ist zu sein, zu tun und zu geben. Ein tiefes Verneigen.
Mögen wir den Zyklus des Lebens ganz annehmen können.
Ein schöner moment war das grad, sitzend in der sonne am mittagstisch mit deinen gedanken. Merci!