Weihnachten. Wow. Was für ein überfrachtetes Fest.
Eine Begegnung mit einer mir liebgewonnenen Patientin hat mir dies wieder vor Augen geführt. Eine taffe Frau, gerade 60 geworden, eigenen, erfolgreichen Laden in der City, großen Freundeskreis, sozial engagiert, freier Lebensstil, aber eben nie die klassische Familienkiste aufgemacht. Sie kam zur Behandlung mit einem “Ich hab nichts konkretes, aber ich hab mich sehr auf Deine Behandlung gefreut. Guck mal, was Du findest.”
Und was ich fand: Viel Spannung im Becken. Irgendwie eine Art Zurückhaltung. Unpassend zu dem, wie ich sie sonst wahrnahm- frei. Meine Frage zielte auf: “Mh, bist Du frisch verliebt und traust Dich nicht oder halten Dich irgendwelche Rahmenbedingungen ab?”
Sie stutzte: “Zurückhaltung? Nee- nicht in dem Punkt. Aber es beschäftigt mich tatsächlich was: Weihnachten! Ich muss wieder bei meinen Eltern feiern (das unschlagbare Argument: Wer weiß, ob es nicht das letzte Weihnachten zusammen ist), aber eigentlich wollte ich da lieber schon auf Sylt sein.”
Auch für mich persönlich gab es einige Jahre zwischendurch, in denen ich unter der hohen Erwartungshaltung dieser speziellen Tage- vor allem im Singlestatus- Jahr für Jahr versucht habe, das Fest irgendwie anders als “gewöhnlich” zu gestalten. Unter Palmen und tauchend mit bull sharks in Mexiko, mit einer guten Freundin beim vegetarischen Menu und Abendspaziergang, auf einem Containerschiff in Singapur (mit “Sushi- Gans”, weil der Koch sie schon nach 2 h wieder aus dem Ofen geholt hat 😉 ), bei Freunden nachts angetüdelt schlittenfahrend im Schwarzwald… Ich glaube ja, bei keinem Fest wird es einem moralisch und auch praktisch so schwer gemacht, andere Wege zu gehen, wie an Weihnachten. Schließlich gilt es als das Fest der Familie und der Liebe.
Zu Hamburger Zeiten war es eine übliche Stimmung im Freundeskreis um mich rum: “Ich fahre Weihnachten auch nach Hause. So richtig will ich eigentlich nicht… aber ich muss ja.” Ich finde, “müssen” hat nicht so viel mit Liebe zu tun ;). Und jetzt sitze ich Jahre später mit dieser selbstständigen, unabhängigen Frau in einem Raum und sie trägt selbst mit 60 noch diese Bürde.
Also was tun? Sieben Möglichkeiten!
A) Wahrnehmen: Sich erlauben, dass es sich so anfühlt- und sich bewusst sein, dass es noch vielen anderen so geht. Nicht jeder erzählt davon- bei mir auf der Bank mit Hand drauf, höre ich das schon öfters ;). Glaub mir, Du bist wahrlich nicht allein mit diesem Gefühl.
B) Optionen: Change it, leave it or love it. Das gilt auch für das Weihnachtsthema. Egal, wofür Du Dich entscheidest: ob die Feier aufmischen und was vollkommen Neues in all der Tradition etablieren oder gar nicht erst erscheinen… Entscheide Dich für eine der drei Hauptpfade. Du hast es in der Hand: Change it, leave it or love it.
Falls Du nach Hause fährst, dann sei auch da, möglichst mit allem, was Du bist. Wenn es das Geschenk an die Familie (und die Tradition und Moral) ist, wie erwartet auch wirklich vor Ort zu sein, dann auch zu 100%. Auch mit echten Emotionen, auch mit Ja und Nein. Auch mit Wünschen. Sei so komplett und Du wie nur möglich. Denn das kostet Dich weniger Kraft als halbgar oder innerlich auf der Flucht zu sein. Und nur so ist es möglich, sich wirklich zu begegnen.
C) Support: Nimm vielleicht jemanden mit?! Es gibt immer wieder Leute, die Weihnachten echt ein bisschen familiäre heile Welt genießen (bei einer anderen Familie geht das auch meist eh noch ein bisschen leichter 😉 ). Ein Freund auf Reisen war mit 20 bereits Vollwaise und in diesen Tagen immer ein wenig verloren. Meine Spanisch-Tandem-Freundin in Hamburg wohnte zu weit weg, um für ein paar Tage überteuert nach Hause zu fliegen und hing somit in ihrer neuen Wahlheimat fest… und kaum ein anderer Freund war noch da. Einige Leute sind zu der Zeit irgendwo in der Welt unterwegs, auf Reisen. Ladet sie ein! Sie haben sicher spannendes zu berichten, z.B. wie sie normalerweise Weihnachten zu Hause feiern (sofern sie aus einer Kultur kommen, die das Fest auch zelebriert). Zusätzlich kann jemand “Ungewohntes” am Tisch alte Familien- Systeme ein Stück weit aufsprengen und für frischen Wind sorgen. Eingespielte Muster am Tisch greifen dann weniger häufig. Und Du hast Deinen eigenen Support direkt dabei.
D) Dosierung: Das ist ein wesentlicher Schlüssel. Vielleicht einfach weniger lang bleiben, nicht das volle Programm mitmachen, genug Gelegenheit zu Rückzug zwischendurch schaffen. Das Geheimnis ist, Zeit mit Dir selbst zu verbringen, in denen Du Dich erdest und emotional reinigst, in der Du für inneres Gleichgewicht sorgst- in dem starren Plan vom Ablauf des Festes und Deinen eigenen Bedürfnissen und sonstigen Lebensrhythmen. Das schafft auch Flexibilität zum besseren Abfedern von Stimmungsschwankungen drumherum.
E) Setting: Schaffe Dir Rahmenbedingungen, die Dich ungezwungen und frei fühlen lassen. Simple Details: Setz Dich dahin, wo Du Dich wohl fühlst. Suche Dir Deinen Stuhl selbst aus. Tausch die Perspektive am Familienesstisch. Bleib mit Dir selbst gut im Kontakt. Lieber Wahrnehmen anstelle “Durchhaltetunnel”. Steh auf und mach Dir einen Tee, wenn es zu brisant wird. Stampfe und schrei im Bad ins Handtuch, wenn Du das Gefühl hast, Dir platzt gleich der Kragen (Ausdruck und so… http://blog.tina-knape.de/2019/03/30/wege-des-ausdrucks-ausdruck-als-weg-2/ ) Geh vor die Tür und bewege Dich ein bisschen an der frischen Luft. Das ist bei dem meist kalorienreichen Essen sowieso immer eine gute Idee. 😉
F) Dankbarkeit: Genieße das, was da ist. Dass Du diese, Deine Ursprungsfamilie hast- mit all ihren Schrullen und Macken. Sie ist ein wunderbarer Spiegel für alles, was Du niemals- oder genauso bist. Diese Menschen sind Dir vertraut. Und wer weiß, vielleicht gibt es trotzdem Ungeahntes und Unerwartetes zu entdecken. Lass auch in Dir ein bisschen mehr Raum, Dich mit Neuem oder bisher Nichtgesehenen überraschen lassen zu können.
G) Frieden: Er fängt in Dir an. Mit viel Gleichmut, Geduld und Atmen und einer friedlichen Stimmung in Dir wird es friedlicher um Dich rum. Wenn Du schon vor Ort bist, dann vielleicht mit Friedensflagge in der Tasche?! Wenn das (noch?!) nicht geht, dann feier vielleicht an einem Ort, der mit Weihnachten nichts am Hut hat oder an dem Du wenigstens zum Fest der Liebe Deinen inneren Frieden und Deine Selbstliebe mit Dir zelebrierst!
Fazit: Du bist selbstbestimmt! Du gestaltest mit, auch an Weihnachten. Das Fest ist ein krasses Trainingslager, um alle Skills in Anwendung zu bringen. Also bleib vor allem freundlich zu Dir selbst, wenn nicht alles friedlich, rosarot, schneeweiß und harmonisch wird. Egal wo und mit wem. Für die Anderen sind es meist auch (ent-)spannende Zeiten.
A(t)men 😉
(Ich bin gespannt, wie es bei mir dieses Jahr läuft 😉 )
Frohe Weihnachten.