Fastenzeit ist eine wunderbare Gelegenheit, dieses Zeitfenster für eine bewusste Wahrnehmung zu nutzen. Jedes Jahr von Aschermittwoch bis Ostern sind diese Tage und Wochen mit besonderer Bedeutung versehen, die uns dabei helfen können, Alltagssituationen deutlicher auf den Schirm zu bekommen. Es geht dabei in meinen Augen nicht nur um Verzicht (auf Schokolade, Kaffee und Co), sondern vielleicht auch um ein bewusstes Hinzufügen von etwas (jeden Tag z.B. was Selbstloses tun, was verschenken, was gesundes kochen, was aussortieren…). Vor allem geht es um ein sich gewahr werden, wie wir Dinge tun- und diesen ausgewähltem Fakt vielleicht sonst viel zu wenig Bedeutung oder Aufmerksamkeit schenken.
Im Laufe der Jahre habe ich diverse Bereiche ausprobiert und jedes Mal erlebt: Krass, das war mir gar nicht so deutlich klar, wie viel oder wie selbstverständlich ich Dinge tue oder lasse.
Sechs Wochen vegetarisch ernähren, schien mir damals eine leichte Aufgabe, entpuppte sich zu der Zeit mit einem freundlichen Metzger-Patienten, der fürs Team ein frisch duftendes Wurstpaket mitbrachte, doch als schwierig. Ich stellte auch fest, wie unkreativ ich nach einer Weile war, mir was leckeres ohne Wurst/Fleisch zu kochen. Das hätte ich ohne diesem Erlebnis in der Fastenzeit so nicht bemerkt… und ich hätte so nie einen nun legendären, weil so unleckeren Chicoree-Auflauf ausprobiert. 😉
Eine Zeitspanne im Fasten-Frühling “ohne Zucker” war in der Umsetzung auch komplex. Situationen wie: Wie, kein Sonnenschein-Eis? Wie soll das denn gehen? Und ist Kuchen eigentlich erlaubt, weil streng genommen ist da ja auch Zucker drin…?! Überraschend, wie viel Aufmerksamkeit es schafft, wie komplex und schwierig selbst nur eine Woche ohne Zucker in einem gewohnten Alltag eigentlich ist.
Dieses Jahr 2019 habe ich wiederholt auf “social media” verzichtet. Kein Whatsapp, kein Facebook, kein Telegram. Instagram hab ich schlauerweise vorher schon nie als App hinzugefügt. Dieser Fokus auf den “digitalen Konsum” war schon einmal mein Schwerpunkt und ich weiß noch, wie schwer es mir anfangs fiel. Dieses Mal hat es sich eher wie eine Art zeitliche Befreiung angefühlt. Kommunikation und Absprachen waren so viel klarer- und via SMS, Email und Anruf ja auch weiterhin “modern” möglich und nicht nur ganz oldschool mit Postkarte und Brief (wobei auch das wieder schön war, in einem Cafe sich einfach mal die Zeit und Ruhe für einen postalen Gruß zu nehmen. Kam auch in befreundeten Briefkästen gut an.) Jede Lücke zwischen Alltagsabläufen wie “Kind bei der Betreuung abgegeben und auf dem Weg zum Job sein” war nicht gefüllt mit “mal eben schnell im Handy” was gucken/ erledigen, sondern einfach den Fußweg oder die Bahnfahrt von A nach B wahrnehmen und genießen. Raum für Gespür. Vogelgezwitscher. Ostereier an Sträuchen. Neue Knospen am Baum. Einen Gruß an die Nachbarin. Es entstand wieder mehr Raum und Lücke, die nicht mit was gefüllt war, als dem, was ich gerade tat und wo ich gerade war. Der Zauber mit dem Hier und Jetzt. Schlichter Alltag. Mehr Fokus auf den Augenblick. “In den Pausen passiert das Wesentliche.”
Die ungeteiltere Aufmerksamkeit für die Kids beim Spiel, als nebenher noch schnell was ins Handy zu tippen, war erleichternd und Frieden stiftend, ich glaube, auf beiden Seiten. Recht unspezifische Mitteilungen haben mehr Prüfung erfahren, hinsichtlich “wem, für was und weswegen?”, als es sonst so leichtfertig geht, auf die Schnelle was zu erzählen oder rauszublubbern. Es hat für viel mehr Ruhe im Innen und Außen gesorgt, ein deutlich mehr im Moment sein. Der Zugewinn war größer als der Verzicht. Das fühlte sich beim 1. Mal vor Jahren noch anders an. Und spannend sind durchaus die Reaktionen im Vorfeld vorab gewesen: “Echt? Wie geht das denn?” “Und in all den Gruppen- dann weißt Du doch gar nicht mehr Bescheid?” “Ich finde das toll, könnte das aber niemals.” Ich kann nun behaupten: Es geht. Leichter, als man es sich ausmalt. Und es ist sogar wahrlich bereinigend. Und ich danke den Freunden in den Gruppen, dass sie mich auch auf anderen Wegen uptodate gehalten haben für die wirklich relevanten Dinge.
Da “Handy benutzen” ja auch verknüpft ist mit Fotografieren, Apps checken und Co habe ich automatisch durch die geringere Benutzung des Telefons auch deutlich weniger Fotos gemacht und Momente zerrupft, um sie “festzuhalten”. Es gab eine Situation mit Freundinnen im Cafe, während sie ihre Telefone zückten, um ihr Essen zu fotografieren (und ggf auch zu posten), wo ich einen Augenblick des “das ist schon ganz schön seltsam, was wir da machen” hatte. Losessen ging erst nach dem Fotografieren- und nicht nach einem gemeinsamen “guten Appetit” am Tisch. Auch dafür war es eine wunderbare Erfahrung, mir selbst und einem “neuen” klassischen Verhalten bewusster zu werden.
Es sind trotz meiner “Ich bin off”- Abmeldung und der Vorabinformation über meine Fastenzeit 77 Facebooknews und 386 Whatsapp-Nachrichten eingetrudelt, die ich nun sechs Wochen nicht gelesen habe- und es trotzdem geht. Verrückt- mit jedem Hochtickern der Zahl sehe ich die dazugewonnene Zeit, dass jetzt nicht “mal schnell und gleich” zu checken, sondern im Moment zu bleiben. Auch eine schöne Erfahrung, zu erleben, dass es möglich ist, offline zu sein und trotzdem verbunden und anderweitig im Kontakt. Wenns echt wichtig ist, funktionieren andere Kanäle, eingeladen und informiert wurde ich trotzdem. Und ein gemeinsames Treffen von Angesicht zu Angesicht ist eh unschlagbar.
Die Neufindung und Herausforderung wird nun nach dieser on/off-Phase, eine Balance zu finden, die selbstbestimmt, kommunikativ, geprüft, gewahr und leicht zugleich ist. Präsenz ist ein Geschenk, was wir uns gegenseitig mehr geben können- egal, ob ohne Handy abends in der Bar, in der Pause beim Job oder zuschauend auf dem Spielplatz. Das Kontakt-Empfinden verliert vielleicht an Bandbreite und Fülle, was ja aber auch zum Teil gerade der Haken an der Sache ist. Es gewinnt an Gezieltheit, Präsenz und Tiefe.
Es ist ein Fastenzeit-Experiment, was sich wahrlich gelohnt hat und Erkenntnisse brachte. Ich fühle mich bereinigt. Ich bin mir mehr darüber gewahr, wie schnell der Griff zum Handy kleine Atempausen und Momente füllt und unserem Geist die Gelegenheit raubt, einfach mal “nichts” zu haben, zu sein oder zu brauchen. Die Erfahrung hat auch gebracht, kein digital-Detox-Buch mehr lesen zu müssen. Dieses Selbsterlebnis war lohnenswert und erhellend genug.
Jetzt zum Ostermontag bin ich wieder online, lese meine aufgelaufene Post, erkenne, dass sich keine Katastrophen ohne mein Lesen im social network Freundeskreis ereignet haben, schmunzel über den alten und auch neuen Bezug zu meinem Telefon und wünsche mir einen bewussteren Umgang aufgrund der Erfahrung der Fastenzeit. Die Einstellung im Telefon, neue Nachrichten nicht im Sperrbildschirm ersichtlich zu haben, werde ich so belassen. Schon das schafft mehr Ruhe. Und Uhr und Wecker gibt es ja traditionell auch ohne das Antippen des Telefons, sondern auch als Accessoire am Handgelenk. Ich werde es mehr einfach “irgendwo” liegen lassen- und meine Präsenz lieber meinem Gegenüber schenken. Ein leerlaufender Akku sorgt nun auch für weniger Sorgenfalten. Auch mal nur für einen Tag als Erlebnis kann ich zumindest dieses spannende Experiment sehr empfehlen. Es ist leichter möglich als gedacht- und sorgt wirklich für eine andere Wachsamkeit seinen eigenen Mustern und scheinbaren Abhängigkeiten und äußeren Zwängen gegenüber.
Es lebe die Selbsterfahrung!