Wie voll ist Ihr inneres Fass?

Foto: Thomas Hirsch-Hüffell

Neulich behandelte ich eine Patientin, Mitte Dreißig, aufgrund starker Schulterbeschwerden. Korrekterweise muss ich sagen, sie ist eine Schmerzpatientin, denn in der Dauer und Heftigkeit des Schmerzes, den sie seit einem Jahr empfindet, spielt der Hauptbeschwerdeort Schulter gar keine große Rolle mehr. Sie hat viele viele Therapieeinheiten absolviert — vielleicht zu viele? Sie ist bemüht und übt zuhause, so gut es geht, doch nichts half bisher. Frust und Unverständnis auf Seiten der Patientin und auch manch betreuenden Arztes und Therapeuten stellten sich ein.

Mittels bildhafter Sprache versuchte ich ihr zu erklären, dass unsere therapeutische Aufgabe miteinander gerade eine andere ist, als ihre schwer betroffene Schulter wieder funktionsfähig zu machen. Alltagsbewegungen sind auf Grund des dominierenden Schmerzes des rechten Armes schier unmöglich. Das reine Hängenlassen des Armes löst allein aufgrund des Eigengewichtes des Armes intensive Schmerzattacken aus. Selbst mit der Hand in der Jackentasche ist es für sie kaum möglich, schmerzfreie Momente zu finden. Ihre Atmung stockt. Der restliche Körper befindet sich seit langer Zeit in einer ausgeprägten Schutzspannung. Trotzdem war sie fokussiert, den Arm zu heilen und alles dafür zu tun. Im Gegensatz zu “Never change a winning team” bei andauerndem Erfolg, braucht es manchmal einen Wechsel der Strategie, wenn sich keine Verbesserung einstellt.

Mein Bild dazu war, dass es gerade nicht vordergründig darum geht, das kaputte Fenster (ihre verletzte Schulter) an einem Haus (ihrem Körper) zu reparieren, da aktuell das ganze Haus gerade in Flammen zu stehen scheint. Jetzt gilt es erstmal, den Brand zu löschen! Es benötigt auf chemischer, struktureller, informativer und emotionaler Ebene ein Entspannen und Fließen in den Zellen, was gerade so nicht stattfinden kann. Deswegen bringt der Fokus auf die Reparatur des Fensters nicht den ersehnten Erfolg, auch wenn dort einmal der Auslöser lag. http://blog.tina-knape.de/2021/03/18/erklaerungsmodell-der-vier-ebenen-einer-beschwerde/

Um ihr verständlich zu machen, wie die Verletzung an der Schulter und all die Kettenreaktionen danach vom Schmerz und dem Schmerzgedächtnis dominiert werden, malte ich ihr ein Fass auf. Verschiedene Ereignisse, die persönliche Geschichte, die Art der Verletzung und wie die Erstversorgung (emotional wie strukturell) lief, füllen dieses Fass und spielen häufig eine große Rolle bei der Genesung. Zusätzlich bringt jeder Patient unterschiedlich viel Raum und Druck in seinem persönlichen Fass in seine Heilung und den Verlauf mit. Die Schwere der Verletzung, der emotionale und existentielle Impact, die Sorgen, der Umgang mit Schmerz aus sich selbst heraus, aber auch der Angehörigen beeinflussen… Es ist so facettenreich, welche einzelnen “Tropfen” bei jeder Geschichte auf unterschiedliche Weise in das Fass mit hineinspielen. Das innere Fass ist bei uns allen unterschiedlich gefüllt. Was bei meiner Schmerzpatientin deutlich für mich von außen erkennbar war: Ihr Fass ist randvoll. Es läuft über. In ihren Augen steht die Erschöpfung der letzten Monate. Sie verkraftet nicht mehr viel. Selbst eine gut gemeinte Therapie trägt gerade nicht zur Entlastung bei, sondern stellt eine neue Form von Belastung in einem überforderten Gesamtsystem dar. Hier befindet sich auch die manchmal schwer auszumachende, aber so wesentliche Grenze zwischen “orthopädischer Patient” und “Schmerzpatient”. In dieses Feld gehört übrigens auch das Thema CRPS-Patienten.

Dies mit eigener Wahrnehmung immer wieder aufzuspüren (und auch mit freundlichem Begleiten von außen), ist essentiell und Schritt eins Richtung Heilung. Schritt zwei ist, für sich (und mit Unterstützung) herauszufinden: Was trägt zur Leerung des Fasses bei, um wieder mehr Kapazitäten und Kompensationsräume zur Verfügung zu haben? http://blog.tina-knape.de/2019/05/11/ein-hoch-auf-die-kompensation/

Im Fall der Schulter-Schmerz-Patientin hoffe ich, dass über eine gezielte Schmerztherapie mit Medikation, einer Reduktion ihres Druckes und die Rücksichtsnahme auf ihre aktuell mögliche Belastbarkeit wieder mehr Entlastung in ihr System kommt. Vermutlich braucht es ein besseres eigenes Kennenlernen all ihrer fassfüllenden Anteile, um das Feuer im Haus nach und nach löschen zu können und um sich letztlich um die eigentliche Fensterreparatur kümmern zu können. Dazu sind viel Geduld, Verständnis, eine stetige, innere Hinbewegung, innere und äußere Rücksichtnahme, Mut, ein Austesten der Belastbarkeiten und Raum für Erkenntnisse notwendig. So kann der Kreislauf des Schmerzes durchbrochen werden – von Seiten des medizinischen Personals gleichwohl wie von der Patientin selbst.

Dies war ein Beispiel, warum Körperwahrnehmung ein Schlüssel für unsere Genesung bzw. für unsere Gesundheit ist. Es ist wichtig, den Zustand des eigenen inneren Fasses für sich zugänglich zu haben, um nicht in ein Überlaufen zu geraten. http://blog.tina-knape.de/2022/04/28/die-innere-wohnung-in-uns/ Sorgen Sie für genug Platz in Ihrem persönlichen innerem Fass. Das ist Prävention.

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