Um wirklich stimmig erklären zu können, wie ich zu dieser Lebenseinstellung oder Erkenntnis kam, braucht es einen kleinen Ausflug in eine meiner Reisen.
Ich trug diesen Satz als Haltung: “Nie ein Kompliment zurückhalten” von einem Hamburger Freund in mir. Er pflegte es zu sagen und anzuwenden, mir gegenüber, aber auch spontan mit Unbekannten auf der Straße, wenn es sich richtig für ihn anfühlte. Und den Effekt in mir- und den anderen Gegenüber- fand ich eindrucksvoll und bewegend.
Auslöser für die tatsächliche Umsetzung aus mir heraus an andere, war eine Szene auf Reisen in Argentinien.
Ich checkte in einem Mehrbettzimmer eines Hostels in Tigre ein- mit Blick auf einen der Flüsse des Deltas, dafür mixed dorm.
Am gleichen Tag kam ein junges Pärchen aus den USA an, seit Monaten mit dem Fahrrad unterwegs, offener Blick, weites Herz.
Und sie hatte wunderschöne Beine.
Das mag seltsam klingen, aber sie hatte tatsächlich wunderschöne Beine. Zusätzlich nun braungebrannt, Shorts an, durchtrainiert vom Rad fahren- und einfach perfekte Frauenbeine.
Es ploppte in mir sofort dieser Satz in den Geist und ich konnte ihn erst gut zurückhalten, aber gleichzeitig drängte er sich auf, ausgesprochen zu werden.
Wie absurd, was mich zurückhielt. Nicht, dass sie denkt, ich will ihr nah kommen? Nicht, dass sie das grenzüberschreitend findet, dass ich sie so genau angeguckt habe?
Aber gleichzeitig: Ich empfand es so. Ich wollte damit nichts erreichen. Ich hatte schlichtweg das Bedürfnis, ihr mitzuteilen, wie schön ich ihre Beine fand.
Energetisch den Hamburger Freund im Rücken sprach ich es nach einer kleinen Einleitungsblubberblase aus:
“Und ich finde, Du hast wunderschöne Beine.”
Sie stoppte ihr Auspacken der nötigen Sachen aus ihrem Rucksack, sagte ein simples “Oh, thank you.” Und ihr Freund riss auf seinem unteren Doppelstockbett die Arme in die Luft und jubelte: “Endlich sagt es ihr auch nochmal jemand anderes! Ich finde das auch! Und wenn ich es ihr sage, scheint sie mir nicht zu glauben. Aber ja- ich finde auch: Sie hat wunderschöne Beine!”
Wir müssten alle lachen, jeder aus seiner Perspektive.
Und es war der wunderbarste Durchbruch, um diesen Vorsatz oder Ansatz eines Miteinanders zum Leben zu erwecken. Und es fanden sich andere kleine Szenen unterwegs und wieder zuhause, es umzusetzen… und die Freude daran zu teilen.
Ganz frisch, neulich in der Praxis: eine neue britische Patientin kam zur Tür herein und sie hatte so wunderschöne “shining eyes”, echte Leuchteaugen. Und gefühlt alles, was ich sah, waren: ihre Augen. Im Laufe der halben Stunde Behandlung fand ich den Weg in mir, mit einer kleinen Geschichte aus einer Szene auf Reisen, von meinem Vorsatz des “Komplimente aussprechens, wenn sie sich wie innerlich aufdrängen”, zu erzählen- und somit hinsichtlich ihrer tollen, strahlenden Augen es auch ihr gegenüber zu platzieren.
Und: abermals trat nur Raum für Freude ein und alle sorgenvollen Zurückhaltungen wären unangebracht gewesen.
Es lohnt sich, gerade manchmal bei unserem deutschen, eher kritischem Mindset, auch das Freudvolle und Zugewandte auszusprechen. Es fühlt sich wunderbar an- auf beiden Seiten.
Wann hältst Du Dich zurück… oder eben nicht?
Was für ein zweifelhafter Berater erhebt da innerlich seine Stimme?
Was wär das Schlimmste, was passieren kann? Und das Schönste?
Wie wäre es für Dich, ein ehrliches Kompliment von Herzen zu bekommen?
Wenn wir es sehen, spüren, hören, wahrnehmen und so empfinden, wie unpassend kann es dann sein, dem auch Ausdruck zu verleihen?
Meinerseits immer wieder gerne:
Kein Kompliment zurückhalten.
Im Kleinen wie im Grossen.