Im Rahmen eines Seminars bekam ich neulich viel strukturellen fachlichen Input. Dabei wurde mir abermals klar: Aufgrund der großen Bandbreite unterschiedlicher Patienten und Sportler läßt sich das richtige Maß an Belastungsfähigkeit nicht verallgemeinern. In einer Fortbildung zusammenzufassen, was ein verletzter Patient spezifisch für sich und seine Genesung braucht, war eine Herausforderung für die Dozenten. Einerseits gibt es den Patiententypus, der als “sportliches Höchstmaß” spazieren geht oder mit seinem Sohn auf dem Bolzplatz Fußball spielt. Andererseits gibt es den Profisportler, dessen Körper sein Kapital bedeutet, der regulär täglich mehrere Stunden trainiert und trotzdem die gleiche Art der Verletzung trägt. Das in Therapie und Training stimmig unter beispielsweise der gleichen Diagnose “Achillessehnenruptur” zusammenzufassen, um einen passenden Trainingsplan zu schreiben, ist schwierig und komplex.
Deswegen sind meine Sicht und Erfahrung dazu: Was alle Verletzten stetig brauchen, ist eine gute Bewegungserfahrung. Egal, ob der Hochspringer wieder den komplexen Bewegungsablauf seiner Sportart benötigt, um unter den Besten mitzuspringen — oder der Familienvater, der die Treppe ins Homeoffice schmerzfrei absolvieren will und genug Kraft für eine kleine Wanderung am Wochenende braucht. Wichtig ist, erreichbare, persönliche Ziele zu stecken, die individuell belastungsangepaßt sind. Jeder Körper hat eine Tiefensensorik, die Rückmeldung gibt, wie rund oder unrund die Bewegung ist. Ein Gelenk rollt und gleitet, die Zellen brauchen Druck und Zug. Dosierung und die Beachtung der Wundheilungsphasen http://blog.tina-knape.de/2020/08/26/wundheilungsphasen-leicht-erklaert/ sind wichtig und tragen einen wesentlichen Teil dazu bei, wie gut Regeneration und erneute Belastbarkeit wiederherzustellen gehen. Die Amplitude des “von- bis” ist wichtig, herauszufinden, um die komplette Bandbreite zu nutzen.
Was es immer wieder braucht, ist vom ersten Stützen gehen bis zum Wiederaufnehmen des Trainings, eine Bewegungserfahrung, die wohlig auszuführen ist und entsprechend als “gut ausführbar” abgespeichert werden kann.
Auch bei Schmerzpatienten, die eine lange Leidensgeschichte hinter sich haben, deren Wundheilung zum Teil entgleist ist und deren Genesen aus den verschiedensten Gründen länger dauert als erwartet (oder nie vollständig möglich sein wird), brauchen wohl dosierten Input. Deren Erleben in Therapie oder beim Bewegen im Alltag sollte dominiert sein von Bewegungserfahrungen, die ein angepasstes Maß an Reiz und doch nicht Überforderung; Erholung, aber auch nicht Inaktivität in sich tragen; Aktivierung, aber auch passive Maßnahmen, die unterstützen. http://blog.tina-knape.de/2020/10/22/mach-mal-pause/
Das ist zum Teil leichter gesagt als getan. In Kooperation mit einem schmerzgeplagten Patienten die adäquateste Belastung und Belastbarkeit zu finden, hat viel mit Austesten, Erfahrung und Gespür (von beiden Seiten) zu tun. Zu Berücksichtigen sind die nachhaltigen Eindrücke des Schmerzes (auch Schmerzerinnerung) und der Einschränkung in den Zellen. Doch bleibt die Zielsetzung die Gleiche: Eine gute Bewegungserfahrung hilft, um die Entgleisung zu reduzieren und wieder “in die Bahn zu kommen”.
Weiterhin ist die Bewegungshistorie des Patienten relevant. Wie viel Bewegungserfahrung generell hat der Patient? War er schon als Kind eine couch potato oder hat er keinen Ausflug ohne Bäume klettern und um die Wette rennen hinter sich bringen können? Wie ist das Thema “sich bewegen können/ wollen” mental belegt? Freiheit oder mühsame Last? Dabei zeigt sich natürlich ein Unterschied zwischen einem Büroangestellten und einem Profisportler. Beide greifen auf sehr unterschiedliche Bewegungserfahrungen zurück, wenn sie “gut” definieren. Das heißt nicht gleichermaßen, dass der Sportler unbedingt ein besseres Gespür für das richtige Maß hat. Gerade junge Profis, je nach Prägung und Ehrgeiz, sehen manchmal ihren Körper als Instrument, das zu funktionieren hat und dafür gebaut ist, Leistung abzuliefern. Kausalitäten sind somit auch hier schwer zu definieren.
Doch nun, was ist eine “gute Bewegungserfahrung”?
Antworten wie: Mein Körper bewegt sich frei und geschmeidig. Die Bewegung löst ein lockeres Lächeln auf meinen Lippen aus. Ich habe Lust darauf, die Bewegung erneut auszuführen. Es fühlt sich gut an, mich zu bewegen und zu spüren, was dabei in den Zellen der Gelenke, der Muskeln, des Bindegewebes passiert. Der Atem fließt frei. Auch nach der Bewegung bleibt es schmerzfrei/ schmerzarm. Es fühlt sich wohlig an, sich bewegt zu haben (und fast eine Art Überraschung entsteht dabei.) Es ging besser als gedacht.” Oder “Wie? Nur so wenig?- Dann tut es ja auch gar nicht weh.” Und schließlich: “Ich merke, gleich reicht es, sonst tut es wieder weh.” Oder “Ich habe nach der Therapie/ Bewegung viel besser geschlafen.” sind allseits therapeutisch willkommen.
CAVE: Auch hier ist die Gefahr, dass es überehrgeizige Patienten aus einer guten Bewegungserfahrung heraus, direkt wieder motorisch übertreiben. Weil mehrere Wiederholungen gut gehen (beispielsweise eine Treppe hochgehen wunderbar schmerzfrei gelingt), kommt es zu “Dann bin ich 20x die Treppe gelaufen und dann tat das Knie doch weh.” So ist eine gute Bewegungserfahrung leider wieder futsch, weil das richtige Maß gefehlt hat.
Variablen sind nicht nur die Art der Ausführung einer Bewegung, sondern auch die Dauer, die Intensität, die Komplexität der Ausführung, die Wiederholungszahl, die Geschwindigkeit, die Summation der Belastungen (Tagesform), die Einhaltung der Pausenzeiten, die allgemeinen gesamtmenschlichen Rahmenbedingungen usw.
Eine Bewegung, die flüssig und rund geklappt hat, gilt es in den Alltag zu integrieren. Während der Gangschule lief der Patient unter Beobachtung des Therapeuten bewusst und rund über den Flur. Nach Ende der Behandlung humpelte er in alter Manier (Schmerzerinnerung in den Zellen und weniger bewusste Aufmerksamkeit) zum Auto zurück. Die korrigierende Konzentration darauf ist anfangs ungewohnt und mental anstrengend. Auch dafür braucht es ein routiniertes Einschleifen, die Bewegungskorrektur im Alltag und Training ein- und auszubauen. http://blog.tina-knape.de/2021/04/08/die-wichtigkeit-des-wie/
Resümee: Es ist schwierig, trotz der gleichen Diagnose oder Verletzungsart einen pauschalen Behandlungs- oder Trainingsplan zu entwickeln. Das Kernstück der gemeinsamen Arbeit zwischen Patient*in und Therapeut*in ist eine angepasste “gute Bewegungserfahrung” — auf dem jeweiligen Level der Belastbarkeit jedes Einzelnen, inklusive der Berücksichtigung seiner Historie und unter Beachtung seines aktuellen Fitnesszustandes. Dieses ausgewogene Dosierung zu finden ist zum Teil mühsam, aber lohnenswert!
Möge das Leben voller guter Bewegungs- und auch generellen Erfahrungen stecken, um zu regenerieren, zu heilen und zu wachsen.