Das andere Normal des Gegenübers

Unser “Normal” ist nicht automatisch das Normal des Gegenübers. Für die Auffrischung dieses Wissens bin ich früher gern gereist, egal, ob Südamerika oder Asien — das Leben dort war anders genug, als mein sonst Gewohntes in Deutschland. https://blog.tina-knape.de/2014/11/13/normal-erleben-auf-asiatisch/

Doch auch hier in unserem deutschen Alltag findet sich eine Vielseitigkeit an Normal. Neulich hatte ich eine bewegende Behandlung mit einem Berufsmusiker. Sein normales Berufsleben ist ein vollkommen anderes im Vergleich zu Menschen mit einem nine-to-five Job. Er übt täglich seit Jahrzehnten stundenlang auf seinem Blasinstrument. Auch ein Urlaub erlaubt kein Pausieren. Der Vergleich mit einem Leistungssportler ist dadurch in meinen Augen durchaus adäquat. Nicht nur motorisch bedarf es eine feingliedrige, spürige Selektivität für das Spielen eines Instruments, sondern es braucht auch mental höchste Präsenz und ein Eintauchen ins Hier und Jetzt. Diese Fähigkeit, darin geübt zu sein, kommt meiner Arbeit sehr zu Gute. So präsent, wie er es vom professionellen Musizieren gewohnt ist, war es ihm möglich, sich unter meine Hände zu begeben und präsent in seinem Körper zu sein. Das sind optimale Bedingungen für ein tiefgehendes Behandeln. Dieses Phänomen kenne ich beispielsweise auch bei Yogalehrer*innen, Tänzern etc.. Bei diesen im Körperbewusstsein geübteren Menschen erlebe ich im therapeutischen Setting ein anderes “Normal”, was Gespür und das Einlassen auf die Behandlung betrifft. Dabei treffe ich auf Offenheit und ein gewohnter Umgang mit Körperkontakt.
In Berufen, deren Alltag geprägt ist von Meetings oder dem Bedienen von Maschinen, fernab von Körperkontakt und selektiver Muskelspannung, ist eine HandsOn-Behandlung anfangs eher ungewohnt und ungeübt.
PhysiokollegInnen unter sich hingegen behandeln sich auch in der Bar gegenseitig und haben keine Scheu vor Körperkontakt, selbst nicht im öffentlichen Raum. Unser kollegiales “Normal” ist wohl auch eher ver-rückt. 😉

Im Fall von Musikern ist auch deren Gehör ein vollkommen anderes Normal als bei uns Durchschnittsbürgern. Mir wurde während der Behandlung mit dem Bläser klar, dass er vermutlich auch seinen Körper “hört” und nicht nur spürt. In der dritten Behandlung sagte er wortwörtlich: “Jetzt habe ich in meiner Schulter wieder den vollen Klang.”
Haben Sie schon einmal Töne in Ihrer Schulter gehört? In meinen Gelenken musiziert da (leider) nicht viel, da wohnen an ehesten Bilder. In seiner Welt ist das hingegen “normal”. Für mich war es eine beeindruckende Formulierung. Ich hatte das Gefühl, ich verstehe, was er meint. Auch für mich war aus Therapeutensicht eine Veränderung spürbar, wenn auch nicht hörbar ;).
https://blog.tina-knape.de/2024/08/13/linkshaender-und-musik/

Also wo liegt “normal”? An wessen Norm orientieren wir uns? https://blog.tina-knape.de/2021/05/06/wahrnehmungen-jenseits-der-norm-synaesthesie/ Das eigentlich Spannende ist, dass jeder, der etwas besonderes trägt, in seinem Erleben es erst einmal für vollkommen normal hält und es somit beim Gegenüber genauso als “Gott gegeben” voraussetzt oder gar erwartet. So braucht es für uns Therapeuten stets die Offenheit, dass manche Patienten ihren Körper von innen spüren, farbenfroh oder bildhaft sehen, klangvoll oder verstimmt hören oder eben nichts davon wahrnehmen können.

Also woran bemessen wir das “normal”? Wie finden wir jeder für sich den Facettenreichtum des Gespürs?

Wir sollten nicht versäumen, unser “Normal” immer wieder in Frage zu stellen und nicht anderen unsere Variante überstülpen. Nicht nur interkulturell tut uns das gut und schafft Verbindungen. Es hilft auch, unsere eigenen Fähigkeiten bei bestimmten Talenten besser wert zu schätzen, auch wenn wir ungefragt damit beschenkt wurden. Zusätzlich hat unser Alltag und unser Beruf uns in bestimmten Feldern (weiter) geübt und trainiert, eine andere Wissenstiefe oder körperliche Erfahrung besonders auszubilden. Wenn wir das “ist doch normal” wieder ein bisschen kleiner dimmen und die Perspektive wechseln, kann die Demut und der Respekt für andere wieder mehr wachsen. Und brauchen wir nicht gerade davon in der Welt ein Schippchen mehr?

Wo empfinden Sie Dinge als “normal” und wobei nicht? Prüfen Sie heute über den Tag hinweg doch einmal, ob Ihr normal auch auf all die anderen um Sie herum zutrifft — und an welchen Stellen Sie in einer Norm einsortiert werden.

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