Blickwinkel als Helfer

Foto: Andre Schumacher

In meinem neuen Arbeitsfeld mit vielen Verunfallten treffe ich sehr häufig auf Patienten, deren Geschichte mit einem massiven Körpererlebnis, der Verletzungsursache, beginnt — und dessen weiterer Verlauf häufig von mehreren Operationen geprägt ist.

Für viele Patienten ist die dauerhafte Therapie ein Genesungsprozess mit nur kleinen Schritten der Verbesserung, vielleicht ohne komplette Heilung und die Aussicht, vielleicht nie in das “wie es vorher war” zurückzukehren. Das ist auch sehr zermürbend. Täglich sind sie zur Krankengymnastik, zur Ergotherapie oder zur medizinischen Trainingstherapie im Haus und haben ihr Programm zu absolvieren. Es sind lauter kleine Tropfen, die in Kombination und über die erforderliche Zeit als schmerzlindernde und bewegungserweiternde Maßnahmen nötig sind.

Der Umgang damit ist — auch je nach Phase der Wundheilung und der kleinen und großen Erfolgserlebnisse — sehr unterschiedlich. Manche spulen konstant und stoisch ihr Programm ab. Andere erschöpft die lange Dauer der Regeneration und das stetige Kreisen um Krankheit, Symptome, Einschränkungen und Schmerz. Therapien und Arzttermine bestimmen den so andersartigen Alltag, der sonst mit Arbeit und Freizeit, Familie etc. gefüllt war.

Was immer wieder dazwischen auftaucht, ist ein vollkommen unterschiedlicher Umgang mit den Beschwerden, je nachdem, wie sich die Geschichte und die zu vermutenden Folgen ereignet haben.

Eindrucksvoll erzählte mir neulich ein 30-jähriger Patient, dass er bei einem Motorradunfall im Urlaubsort aufgrund seiner Verletzung den linken Unterschenkel amputiert bekommen sollte. Er entwickelte selbst in dieser Situation so viel Engagement und Beharrlichkeit http://blog.tina-knape.de/2020/06/24/aktuell-empfehlenswerte-skills-beharrlichkeit-und-kreativitaet/, sich noch in sein Heimatland verlegen zu lassen, dass er seinen Unterschenkel tatsächlich noch besitzt. Sein Sprunggelenk ist versteift, der Knöchel trotz Kompressionsstrumpf massiv geschwollen, Haut transplantiert — und trotzdem hat er einen anderen Blick auf seine vorhandenen Symptome. Sein Blickwinkel ist sein größter Helfer, mit Entschlossenheit durch das Therapiekarussell zu laufen. Im “normalen” Praxisalltag löst für manche Patienten ein gestauchtes Sprunggelenk und eine Schwellung des Knöchels inklusive AirCast-Schiene ein wahres Stimmungstief aus. Der Blickwinkel ist bei der fehlenden Dramatik ein vollkommen anderer.

Ich kann beispielsweise sehen, dass Eltern mit Wunschkindern nach jahrelangen erfolglosen Versuchen des Kinderkriegens eine andere Dankbarkeit und Geduld mit den altersspezifischen Herausforderungen an den Tag legen. So sehe ich Patienten, die ihre eigene Geschichte mit einer vollkommen anderen Würde tragen, wenn sie ihr persönliches worst case Szenario mit ganz anderen nachhaltigen Konsequenzen durchgespielt haben. So genießen wir nach eingeschränkten Corona-Zeiten mit einem anderen Genuss den Cappuccino im Cafe. http://blog.tina-knape.de/2019/06/02/kaffee-trinken-fuers-gemuet/

Wie viel der Geist doch ausmacht und mitlenkt, was wir ertragen, wogegen wir uns wehren, was wir hinnehmen. So viele Kausalitäten fallen weg, wenn wir eine andere Sicht der Dinge entwickeln. Dieser Helfer namens “Blickwinkel” gehört zu unserem Repertoire. Zu ihm haben wir mehr oder weniger Zugang. Meinen Helfer kann ich meist aktivieren, wenn ich mich mit anderen austausche, deren Geschichten höre, deren Sichtweise mitbekomme und mich verbunden fühle und gleichzeitig die Individualität des einzelnen Erlebens wahrnehme.

Im besten Fall kann therapeutische Arbeit auch genau das leisten: einen anderen Blickwinkel anbieten, zwischendurch für Perspektivwechsel sorgen und mit anderen Geschichten ins Verhältnis setzen. Verantwortungsvoll, wertfrei, im besten Fall weitend.

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