Neulich saß ich an einer Straße mit drei Spuren, Straßenbahngleisen und einer komplexen Kreuzung. Es gab alles an städtischem Verkehr, vom Fahrschulauto bis zum Zulieferer-LKW, hippen Elektrorollern, Radfahrern, Kinderwagen schiebenden Fußgängerinnen… Ein buntes städtisches Verkehrsbild an einem belebten Dienstagmittag im Sommer 2021.
Zu der Zeit beschäftigte mich der sehr unterschiedliche Umgang mit der Pandemie intensiv. Es gibt Vorsichtsmaßnahmen. Es gibt Schutzmaßnahmen. Es gibt Regeln. Es gibt Empfehlungen, auch dringliche. Es gibt individuelle Umsetzungen dazu. Es gibt Einschränkungen. Es gibt Gefahren und Risiken — gefährliche, kalkulierbare und noch unbekannte. Letztlich soll jedes Detail dazu beitragen, ein Miteinander unter Menschen so zu gestalten, um sich zu schützen und Gesundheit und Leben zu bewahren.
Auch im Straßenverkehr gibt es unterschiedliche Regeln, Rechte und Pflichten. So kann man einen Fahrradhelm aufsetzen (was viele tun), muss aber nicht. So gibt es eine Pflicht im Auto, während der Fahrt einen Gurt zu tragen — sonst zahlt man Strafe bzw. verletzt sich vermutlich schlimmer (trotzdem wird man im Krankenhaus behandelt, auch wenn man “Schuld” hatte). Es gibt Verkehrsregeln, damit die Einzelnen sich besser untereinander abstimmen und koordinieren können. Es gibt wilde und vorsichtige Verkehrsteilnehmer*innen, defensive und freche. Manche fahren vertrauensvoll bis mutig auf neuen Elektrorollern mit kleinen Rädern auf der Straße ohne Helm, auch manchmal zu zweit oder dritt und sind recht überraschend, fast unreflektiert angstfrei unterwegs. Andere setzen selbst beim Eis essen am Straßenrand ihren Fahrradhelm nicht ab. Manche haben Angst vor dem Autofahren. Manche wollen keinen Führerschein. Andere bevorzugen die öffentlichen Verkehrsmittel, weil ein anderer lenkt und somit die Hauptverantwortung trägt. Ich hingegen düse gern mit einer Art Vespa durch die Stadt, mit Helm auf, ist Pflicht. Neulich hatte ich einen sechzigjährigen Patienten zur Behandlung, der Motorradfahren für sich nur als echte Freiheit empfindet, wenn er ohne Helm an einem warmen Sommertag mit Wind im Haar losdüsen kann (eher schwierig in Deutschland, in Griechenland geht es wohl besser).
Und da liegt der Kern des Konflikts, dass Angst und der Drang nach Freiheit in jedem einzelnen etwas anderes auslösen und dass in verschiedenen Bereichen (und Regionen) unterschiedlich priorisiert wird. Diese Vermischung zu durchblicken, kostet mich gerade viel Aufmerksamkeit und Wachheit.
Bisher gibt es keine Impfpflicht in Deutschland. Die Wichtigkeit dieses Themas und der Umgang damit variiert auch je nach Bundesland/ Land stark. Der Thüringer Wald fühlt sich dabei ganz anders an als die Frankfurter Innenstadt. So entstehen unterschiedliche Druckverhältnisse. http://blog.tina-knape.de/2021/07/29/regeln-druck-und-ihre-auswirkungen/, http://blog.tina-knape.de/2021/01/12/impfung-und-raum-lassen-fuer-eigene-entscheidungen/
Dass es dabei eine unterschiedliche Einschätzung von Risiken je nach Altersgruppe, Erfahrungsfeld und Lebensweise gibt, ist leider nicht flächendeckend so wertfrei, wie Menschen ihre Verkehrsmittel auswählen können. Gurte und Helme sind Pflicht. Die Corona-Impfung ist es (bisher) nicht, wird aber als solche vermittelt, weil schnell das Wort “Verweigerer” fällt. Es gibt vorsichtige Fahrradfahrer und kamikaze-artige Autofahrer, und umgekehrt. Gefährlich kann es als Autofahrer wie Fußgänger in unterschiedlichen Situationen gleichermaßen sein. Und nichtsdestotrotz entscheidet das Fahrverhalten nicht allein. Es gibt Zusammenhänge, aber nicht für alles gibt es Kausalitäten.
So erkrankt nicht jeder leicht oder schwer an einer Covid-Infektion oder verträgt die Impfung gut oder schlecht — und umgekehrt. Was genau wie passiert und wer sich wie welchen Gefahren aussetzt, bleibt bis zu einem gewissen Grad auch unkalkulierbar und individuell. Im verhärteten Diskurs eines Für und Wider und der damit verbundenen Spaltung und Polarität, die rund um Corona, Impfungen und Co im Umlauf sind, strebe ich weiter die Mitte an — und plädiere für den Raum, die individuelle Einschätzung von Gefahren jedem selbst zu überlassen, gar zu gewährleisten. Der eine fährt Roller, der andere fährt Auto oder der Dritte lieber in einem Bus mit. Diese Art der Gefahren- und Risikoabwägung sollte jedem zustehen. Generell am Straßenverkehr des Lebens teilzunehmen, ist und bleibt ein Risiko oder eben auch eine Freude. Aufeinander Acht geben und defensives Verhalten ist ein hohes Gut und trotzdem gibt es ein individuelles Umsetzen. Selbst unter Beachtung aller Gefahren und auch Regeln bleibt niemand davor gefeit, dass ihm jemand vor das Auto läuft und ihn verletzt. Es bleibt immer ein Risiko bestehen und auch das gilt, es als Teil des Lebens zu integrieren.
Mögen wir den Raum haben, dass es bunt und vielseitig sein und bleiben darf. In einem und beim anderen.