Normandie- von lieblich bis tragisch

Es ist nicht mein erstes Mal in der Normandie. Frankreich war schon häufiger auf meiner Reiseliste bzw. ist die Lieblingsdestination meines Mannes. So waren wir in den letzten Jahren immer wieder in der Normandie und in der Bretagne.

Dieses Mal waren wir wieder da und ich habe vieles mit anderen Augen wahrgenommen. Vielleicht wirkten deutlich weniger Schwangerschafts- oder Stillhormone, sodass ich die ganze Bandbreite der Normandie sah. Vielleicht verweilten wir auch länger als sonst. Es gibt schöne, abwechslungsreiche Strandabschnitte, aber gleichermaßen sind es in dem Fall auch die “Hotspots” der Anlandungsstellen von Briten und Amerikanern im 2. Weltkrieg. Panzer am Straßenrand — meist als Hinweis zu verschiedenen Museen zu diesem bewegenden Thema. Ich bin über mich selbst erstaunt, wie selektiv mein Blick gewesen sein muss, dass mich dieser Fakt im Vergleich zum letzten Mal so anders erreicht hat?!

In wunderschönen, verschlafenen normannischen Dörfern strahlen die Hortensienbüsche, stapeln sich Strohballen auf den Feldern, findet sich irgendwie immer eine Brasserie oder Bar, um sich einen Kaffee mitzunehmen, während die Kids ihren Mittagsschlaf ins Auto verlegen. Es gibt kaum besuchte Strände. Ohne weiteres ist hier Corona- Abstand-Einhalten möglich. Bei Ebbe sind die Strände breit, von kieselsteinig bis fein-weiß-sandig, mit grünen Hügeln im Hintergrund oder nah an kleinen Ortschaften gelegen. Es findet sich unkompliziert und kostenfrei immer ein Parkplatz in erster Reihe. Kiter sind im Wasser und am Strand unterwegs, kleine Kinder buddeln im Sand, Ältere haben ihren kleinen Campingstuhl dabei. Das Meer ist blau, leuchtend, wunderbar. Der Horizont bleibt mein Rätsel der Perfektion vor meinen Augen. (Eines Tages muss ich zur Annäherung der Lösung und zum vertieften Ergründen eine weitere Containerschiffsreise auf dem Meer machen. http://blog.tina-knape.de/2015/03/04/das-schiff-erschienen-im-nsb-magazin-am-2-3-15/)

Und dann taucht mitten in dieser Idylle ein ganz anderes Kapitel Weltgeschichte auf. An den selben Stränden, die Omaha Beach, Golden Beach oder Juno Beach heißen, haben im Juni 1944 so viele Menschen auf allen Seiten der beteiligten Nationen ihr Leben gelassen. Entsprechend gehören Kriegsfriedhöfe auch zum prägenden Bild der Normandie. Auf der Landkarte steht neben dem Symbol für Militärfriedhof Britisch, Kanadisch, Deutsch. 4900 Gräber, 19000 Kreuze für verstorbene Soldaten… und in den umliegenden Dörfern weitere Gedenkstätten.

Mitten in dieser Vielseitigkeit der Normandie sitzt ein neugieriger, vierjähriger Junge mit im Auto. Er ist mittlerweile voll im “Piff-Paff-Alter” angekommen — egal, ob mit einem Stock oder selbst mit einem Baguette unterm Arm spielt er in letzter Zeit Schießen. Bisher habe ich versucht, es so zu lenken, dass beispielsweise Jäger von Berufswegen schießen dürfen, zum Beispiel auf kranke Tiere, um sie zu schützen. Doch hier bekommt Schießen noch einmal eine ganz andere Bedeutung. Er macht nun große Augen und fragt: “Was ist ein Panzer, ist das eine Schneeraupe? Für was sind die Kanonen? Was ist Krieg? Warum sind da so viele verstorben?”

Für dieses Alter und die Art von Fragen wurde ich in meinem Geburtsvorbereitungskurs nicht vorbereitet! Dafür wäre ein Elternkurs eine wirklich notwendige Veranstaltung.

Ich bin noch dabei, für mich selbst einen Umgang zu lernen bzw. einen open space einzuräumen, um beide Welten von Idyll und Dramatik gleichermaßen zuzulassen. Einerseits den Strand zu genießen, all den frischen Wind zu spüren, das facettenreichste Blau des Meeres aufzusaugen, das Kommen und Gehen der Wellen zu beobachten, die Freundlichkeit der Landschaft und der Menschen und den Genuss von Cidre und guter französischer Küche zu frönen. Und andererseits, offen zu sein, die Emotionen zuzulassen, wenn ich hineinspüre, was sich hier auf tragische und dramatische Art und Weise zugetragen hat. Es ist noch keine 100 Jahre her. Mein Opa hat mir in meiner Kindheit noch von seinen Kriegserfahrungen erzählt.

Hier zeigt sich für mich also abermals das Spannende und auch das Herausfordernde der Dualität des Lebens. Dieser (scheinbare?) Widerspruch der Dualität findet sich während Coaching-Stunden auch immer wieder im individuellen Erleben. Etwa das Gefühl, nicht genießen zu können oder zu dürfen, weil ein nahestehender Mensch bedrohlich erkrankt ist. Jorge Bucay schreibt in seinem Buch Der Innere Kompass: “Das ist Verzicht. Die Erkenntnis, die Dinge zu genießen, die wir haben, nicht nur, weil wir sie eines Tages nicht mehr haben könnten, sondern obwohl wir sie eines Tages nicht mehr haben werden. Das gilt natürlich auch für das Leben selbst. Mit allem Guten und Schlechten, mit dem was bleibt, und mit dem, was sich ändert, mit dem, was nie wurde, und mit dem, was nicht mehr ist.”

Leben und Sterben, so nah beieinander. Darf man genießen, wenn doch hier auch ein Ort für so viel Leiden war? Geht es, das Gefühl der Lebendigkeit offen zu halten, ohne sich dem Tod zu verschließen?

Ich stelle mir weiter meine Fragen, während mein Großer weiter seine stellt: Warum waren da nur Männer? Wo waren denn die Frauen? Können die nicht schießen?

Soviel ist sicher: Normandie wirft Fragen auf und bewegt!

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