Raus aus der Bubble

Wir hängen in unserem Alltag häufig in unserer eigenen “Bubble” fest. Das kann passieren, ist häufig nur nicht sehr (zu-)friedenstiftend. In meinem Arbeitsfeld begegne ich den verschiedenartigstes Menschen, da Schmerz und Verletzung vor keiner Berufsgruppe, Altersstufe oder Finanzsituation halt macht. Patient sein kann jeder. Dadurch bekomme ich Einblicke, was jeder in seiner Blase sitzt und sieht- oder eben nicht.

Eine junge Polizistin, die mir von ihrem Einsatz am Morgen erzählt, berichtet aus ihrer “normalen” alltäglichen Welt. Ein aufgebrachter Mann hat sie umgehauen. In ihrer schweren, unbeweglichen Schutzweste, die sie im Dienst trägt, ist ein schnelles Aufstehen gar nicht so einfach. Mein nächster Patient, vielbeschäftigt bei einer großen Bank, schlägt sich im Büro viel sitzend mit andersartigen “Deadlines” (was für ein Wort!) rum. Als nächstes kommt eine junge Ärztin, gerade in Notarztausbildung, und berichtet von ihrem bewegten letzten Nachtdienst, der sie noch immer beschäftigt. Eine junge Frau ist schwanger mit dem Roller verunglückt und es war ungewiss, ob das Kind zu retten war oder nicht. Beim Behandeln einer Erzieherin bekomme ich Einblicke, wie körperlich anstrengend ein Arbeitstag mit vielen Kleinkindern heben, tragen, trösten sein kann.

Doch nicht nur im Jobkontext haben wir so ein unterschiedliches, tägliches Erleben und meist zu wenig Austausch mit anderen Berufsgruppen. Häufig bleiben wir in einem ähnlichen Umfeld mit ähnlichen Geschichten. Auch im Beziehungsstatus bleiben wir häufig in unserer Lebensphase von Single bis Familienmodus unter uns… Klar, im jeweiligen Lebensabschnitt gibt es auch mehr gemeinsame Themen zu besprechen- doch andererseits: wie erfrischen ist es auch, mal als junge Mutter von der “aufregenden Welt” einer Freundin bei Tinder zu erfahren- oder sich vielleicht auch als Alleinstehender etwas über den Packwahnsinn von “unterwegs-Taschen” von frischen Eltern erzählen zu lassen. Und so gibt es auch eine Bubble der Erkrankten und der dazugehörigen Pflegenden; die Blase für Stadt/ Land-Gespräche; das Erleben einer Insel als Urlauber- oder eben als jemand, der da lebt und arbeitet; verschiedene Ernährungskonzepte und Bewusstseinszustände, die Leute verschiedentlich umsetzen…

Häufig sitzen wir mittendrin in unserer Sichtweise und Erlebnis-Blase. Um auf etwas “vollkommen Anderes” zu treffen, bedarf es erstmal Schnittstellen oder Situationen dafür inklusive einer dazugehörigen Portion Offenheit. Sich diese im Alltag zu schaffen, ist nicht so leicht, lohnt sich aber! Auf Reisen habe ich es immer geliebt, genau dem ausgesetzt zu sein. Raus aus dem Gewohnten hier- hin in ein Land, eine Kultur, eine Ernährung, eine Lebensweise, auch Lebensumstände, die so anders waren, als das, was wir in Deutschland oder Europa kennen. Das hat jedes Mal unbekannte und ungeahnte Aspekte in mir erweckt und verschiedene Bereiche (wieder-) belebt.

Und so glaube ich, könnte das auch trotzdem hierzulande möglich sein, aus seiner vertrauten Blase auszusteigen oder zumindest mal umzusteigen. Wie wunderbar wäre es, wenn es mehr Überschneidungen zwischen Alltagsgeplagten und Sterbenskranken gäbe, zwischen Kindern und alten Leuten, zwischen Ökos und Juppies, zwischen Vielbeschäftigten und Gelangweilten, zwischen Fleischessern und Veganern…

Auch im Körper braucht es eine gute Kommunikation zwischen links und rechts, oben und unten, innen und außen- wenn das gut klappt, sind wir wohl eher gesund, selbst wenn wir eine Verletzung tragen. Das ist das, was ich bei meiner Arbeit tue und unterstütze. Ich versuche, wieder Verbindung und Fluss herzustellen oder zu begleiten, damit die Zellen in all ihren Facetten und auch Körper und Geist wieder gut miteinander kommunizieren. Genau das ist übertragbar und wär so hilfreich in so vielen anderen Bereichen im Leben. Und es würde sich gegenseitig gut befruchten und bedingen.

Wenn meine Patientin mit einem frischen Rezidiv ihre Geschichte den Leuten im Büro, die von Abgabeterminen geplagt sind, erzählen würde, könnte es für ein besseres Bewusstsein und ein Gefühl von mehr Lebendigkeit auch dort sorgen. Wenn tatsächlich politische Gruppen zusammensäßen und sich einlassen würden, dann würde auch das in meinen Augen für mehr Frieden sorgen. (Die ZEIT hat da mal ein Dialog-Projekt versucht, an dem ich teilgenommen habe. Idee super, Umsetzung schwierig, weil doch zu ähnlich in der Welt der Blasen. Sich mit einem anderen Zeit-Leser zu treffen war letztlich auch eher ein homogenerer Austausch der Interessenfelder, als dass es kontrovers war, auch wenn wir andere Antworten beim Fragebogen hatten.)

Doch zurück zu all den Blasen in unserem Leben. Es lohnt sich, diese mal zu verlassen und sich dem Leben und dem Sterben da draußen auszusetzen. So empfehle ich meine Kehlkopfkrebs-Patientin raus ins Leben, dass sie sich auch in ein Cafe setzt, sich einen Kaffee bestellt, Leute anguckt, in einer Zeitschrift blättert, auch wenn sie nichts schlucken kann, sprechen schwierig und anstrengend ist und nur über Magensonde zu ernähren geht. Am gesellschaftlichen Leben teilnehmen ist ein Aspekt, den auch die WHO unter “Gesundheit” definiert. So etwas “gesundes, normales” zu erleben, ist das eine auf dem Weg der Genesung. Gleichzeitig ist sie in der Rolle der Cafebesucherin auch eine Teilnehmerin und ein Spiegel für all die anderen Kaffeegenießer um sie herum. Diese Bereiche des Lebens sollten auch Raum einnehmen- auch Erkrankungen, auch sichtbare und hörbare Einschränkungen. Denn das Altern, das Erkranken und der Tod wohnen zwischen uns und gehören genauso dazu wie die freudige Geburt oder Einschulung eines Kindes. Gleichermaßen würden uns existentielle Ereignisse nicht so sehr schrecken, wenn sie uns begegnen. “Plötzlich und unerwartet” wären seltener als Wortlaut passend.

Würden wir uns alle mehr durchmischen und unsere Blase, egal ob Gesellschaftsschicht, Stadtteil oder Weltanschauung mehr auflockern- ich bin mir sicher: es gäb einen Zugewinn für alle. Wie gern würde ich manchmal als Therapieansatz, verschiedene Menschen, die sich mir gegenüber in der Behandlung öffnen, miteinander matchen, damit die Bandbreite des Lebens und Erlebens durch andere Lebens(phasen)geschichten differenzierter beleuchtet wären. So wünsche ich der jungen Polizistin einen friedlichen Feierabend im Kaninchenzüchterverein- und der jobgeplagten Büroangestellten eine Geschichte aus der Notfallambulanz zum Relativieren. So möchte ich gern mal einem müden Ferienjobber auf einem Containerschiff mitschicken, um aufzuzeigen, was es noch für Arbeitszeitpensen auf dieser Welt gibt.

Durchmischen bringt Raum für kreative Lösungen und andere Sichtweisen. Auch im sportlichen Training wäre es ein Ansatz, wie man ein Training neu gestalten kann. Eine Variante wäre, auch da die gewohnten Blasen aufzusprengen und zum Beispiel einen Fußballspieler ins Handballtorwart-Training zu schicken. Oder einen Radrennfahrer zum Kenterrolle lernen in den Kajak zu empfehlen. Da passiert dann wirklich nochmal was ganz neues und Kontakt fachübergreifend.

Abwechslung und Überraschung sorgt im besten Fall für eine bessere Kommunikation. Das ist in unserem Körper auch so. Es braucht ein (Wieder-) Verbinden: von Weggespaltenem, von Schmerzhaftem, von Trauma-Belastetem oder Unangenehmem. Es ist alles eins- und es lohnt sich, sich einzulassen und den Kontakt innen wie außen (wieder) aufzunehmen… das ist der Weg der Heilung, im Großen wie im Kleinen.

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